Die verlorene Gnade
Es war einmal ein sehr armes Mädchen, doch es hatte das große Glück, sich sehr gut zu verheiraten. Es bekam einen Pfarrer, der in einer reichen Gemeinde saß. Er hatte sie lieb und sie ihn auch. Es war alles gut, aber sie hatte Tag und Nacht die große Furcht, Kinder zu bekommen. Die meisten
Frauen machen sich Sorgen, wenn sie keine Kinder bekommen, aber sie fürchtete sich nur davor, dass sie welche bekommen könnte. Und als sie es vor Angst nicht mehr ertragen konnte, ging sie zu einer weisen Frau da im Dorf. Aber das war eine rechte Hexe. Als sie ihr alles erzählt hatte, lachte sie und sagte: „Oh, sie wüsste schon Rat. Die Pfarrerin sollte nur sieben Steine nehmen – denn soviel Kinder hätte sie bekommen sollen - , meinte die weise Frau, und diese Steine müßte sie in den Brunnen werfen, dann blieben ihr Kinder erspart. Als sie das gesagt hatte, gab sie der Pfarrerin die Steine. Diese nahm sie, bedankte sich für den weisen Rat und bezahlte die alte Frau gut. Dann tat sie wie geheißen worden war, sie warf die Steine in den Brunnen. Und von Stund’ an war ihr leichter ums Herz, weil sie sich nun von der Sache nicht mehr zu fürchten hatte. Zeit ging, Zeit kam. Da geschah es, daß der Pfarrer eines Abends mit seiner Frau über den Kirchhof im Mondschein spazieren ging, und als sie so gingen und lachten und scherzten, sah er plötzlich, daß seine Frau ohne Schatten war. Er schaute und schaute, er ließ sie vorausgehen, er sah ihr nach, und da erschrak er und sprach: „Sie müßte eine schwere Sünde mit sich tragen, weil ihr eigener Schatten sie verlassen hätte. Doch die Frau sprach: Sie wüsste von keiner Sünde, sie hätte keine Sünde aufgeladen. Der Pfarrer bat sie nachzudenken, ganz genau nachzudenken, er drang ihn sie, er flehte sie an, denn sie müßte eine Sünde auf sich geladen haben, sonst hätte ihr Schatten sie nicht verlassen.
Doch da beschwor die Frau schließlich: „Nein, doch nein, sie hätte keine Sünde getan.“ Nun wurde der Pfarrer zornig und schlug mit der Hand auf einen Steintisch und rief: „Ebenso unmöglich, wie es ist, daß auf diesem Steintisch eine rote Rose wächst, ebenso unmöglich ist es für dich, daß du wieder Gnade findest vor Gott und vor mir.“ Dann verstieß er seine Frau und gab seinen Leuten Befehl, sie sollten sie niemals wieder über seine Schwelle lassen. Die Frau nahm ihre alten Kleider, in denen sie zu dem Pfarrer gekommen war, und ging. Ging sie rechts oder ging sie links? Sie ging. Sie fragte überall, wie sie es machen mußte, um die verlorene Gnade wiederzufinden, aber es wußte keiner Rat. Endlich kam sie auch zu einem Pfarrer, und als sie ihm alles erzählt hatte, sprach er: „Es gibt ein Mittel, doch das ist sehr schwer.“ „Oh, wenn es auch noch so schwer ist, wenn ich nur die Gnade wiederfinde.“ Da nahm sie der Pfarrer bei der Hand und ging mit ihr in die Kirche. Hier hieß er sie am Altar niedersitzen und gab ihr eine Bibel in die Hand. So sollte sie sitzen die ganze Nacht, und was und wer auch käme, sie dürfte das Buch nicht aus der Hand geben, bis er selbst es am Morgen von ihr wieder abverlange. Dann ging der Pfarrer, und die Frau blieb allein. Und die Nacht kam, und siehe, da kamen schreckliche, schauerliche Gestalten; sie sahen aus wie der Pfarrer selbst und versuchte ihr das Buch zu entreiße, sie kämpften mit ihr, spuckten sie an und schlugen nach ihr. Die ganze Kirche war erfüllt von ihnen. Zuletzt kamen auch ihre sieben ungeborenen Kinder, die sie alle hätte haben können, wenn sie gewollt hätte. Sie rechneten ihr vor, was für glückliche Menschen sie geworden wären und wie tüchtig, wenn sie hätten zur Welt kommen dürfen. Dann schlugen sie auch nach ihr, versuchten ihr die Bibel aus der Hand zu reißen, spuckten sie an und verhöhnten sie, so daß die Frau zuletzt ohnmächtig wurde, aber das Buch hielt sie noch umklammert, als am Morgen der Pfarrer kam und sie fand. Er nahm sie bei der Hand, ging mit ihr auf den Kirchhof und sagte, nun sei sie erlöst, aber sie habe nur noch diesen Tag zu leben, und sie sollte heimgehen zu ihrem Mann. Und die Frau ging. Ging sie rechts, oder ging sie links? Sie ging, bis sie an den Pfarrhof kam. Lange bat sie dort, daß man sie einlassen möchte, aber keiner ließ sie hinein. Endlich erbarmte man sich ihrer und erlaubte ihr, daß sie in der Ofenecke schlafen dürfte, doch am anderen Morgen müßte sie verschwunden sein, damit sie der Pfarrer nicht fände. Als am Abend der Pfarrer heimging, sah er, daß auf dem Steintisch, auf den er damals geschlagen hatte, eine rote Rose erblüht war. Da wurde ihm ganz seltsam zumute, und er fragte seine Leute, ob sie jemanden eingelassen hätten. Aber die Leute sagten, nein, sie hätten niemanden eingelassen und wollten es nicht wahr haben.
Der Pfarrer durchsuchte das ganze Haus, und da fand er seine Frau in der Ofenecke, aber sie war tot. Da zog er sein Pfarrgewand und gab seinen Leuten den Befehl, sie sollten es verbrennen, aber die Leute meinten, es sei schade um so ein gutes Pfarrgewand, und verbrannten statt dessen ein altes.
Am anderen Morgen aber war der Pfarrer ganz von Sinnen und Verstand gekommen und starb bald darauf. Wer es glaubt, der glaubt es, wer es nicht glaubt, der glaubt es nicht, und es bleibt aber doch, wie es ist.
Quelle: Märchen aus Dänemark