Vor vielen, vielen Jahren lebte in einem Wald ein kleiner, unzufriedener Tannenbaum. Herzerweichend weinte er Tag und Nacht, sodass es durch den ganzen Wald hallte. Kein Wunder, dass sich die anderen Bäume darüber beschwerten. Schließlich konnten sie kein Auge mehr zu machen wegen des Lärms, den der kleine Tannenbaum verursachte. Sie ertrugen sein Weinen nicht mehr und hofften darauf, dass ihnen die Waldfee helfen konnte.
Die Waldfee war auf einer hohen Baumkrone zu Hause und eilte sofort voller Sorge zum Tannenbäumlein: „Ich wünschte mir, dass alle Bäume in meinem Wald glücklich und zufrieden wären. Wie kann ich dir helfen, damit auch du wieder lachen kannst?“
Der kleine Tannenbaum erhob seinen Kopf und sagte schluchzend: „Ach, das Leben ist so ungerecht! Alle Bäume besitzen wunderschöne Blätter. Ich hingegen muss mich mit meinen spitzen Nadeln zufrieden geben. Wie gerne hätte ich doch goldene Blätter!“
Die Waldfee schwenkte ihren grasgrünen, mit Moos bewachsenen Zauberstab, murmelte ein paar Zauberworte und kurz darauf stand der kleine Tannenbaum mit lauter goldenen Blättern vor ihr. Der Baum glitzerte und glänzte nach allen Seiten hin. Er war mit Abstand der strahlendste Baum im ganzen Wald.
Die Freude des kleinen Tannenbaumes war riesengroß. Doch sein Glück währte nicht lange. In der darauffolgenden Nacht schlich ein Räuber durch die Gegend, bemerkte die goldenen Blätter und sammelte alle in einen Sack.
Am nächsten Morgen war das altbekannte Jammern zu hören. Der kleine Tannenbaum war zu Tode betrübt. Wiederum versuchte die Waldfee, ihn aufzuheitern.
„Ach, wie ist das Leben doch ungerecht! Alle Bäume haben wunderschöne, grüne Blätter. Mir jedoch wurden die goldenen Blätter gestohlen! Wenn ich doch Blätter aus Glas hätte!“, meinte der kleine Tannenbaum bedrückt.
Also schwenkte die Waldfee ihren grasgrünen, mit Moos bewachsenen Zauberstab, murmelte ein paar Zauberworte und der kleine Tannenbaum stand mit Blättern aus kristallenem Glas vor ihr. Wie war er doch schön in seinem neuen Kleid! Auch das Tannenbäumlein war sehr zufrieden mit seinen neuen Blättern und bedankte sich.
Doch auch diese Pracht war ihm nicht lange vergönnt. Ein stürmischer Herbstwind, der schlecht gelaunt war, pfiff durch den Wald und beabsichtigte, Bäume zu entwurzeln und Äste abzuknicken. So geschah es, dass auch die kristallenen Blätter zu Bruch gingen.
Der kleine Tannenbaum wehrte sich, aber gegen den verärgerten Herbstwind kam er nicht an.
Erneut stand er niedergeschlagen im Wald und klagte: „Ach, wie ist das Leben doch ungerecht! Alle Bäume tragen schöne, grüne Blätter, nur mir sind keine vergönnt. Hätte ich doch auch solch schöne, grüne Blätter!“
Geduldig schwenkte die Waldfee ihren grasgrünen, mit Moos bewachsenen Zauberstab, murmelte ein paar Zauberworte, und kurz darauf stand der kleine Tannenbaum mit schönen, grünen Blättern vor ihr. Das Tannenbäumlein lachte und machte einen Freudensprung, zumindest in seinen Gedanken: „Ach, wie bin ich froh! Danke, liebe Waldfee. Endlich habe ich auch solch schöne, grüne Blätter und muss mich nicht mehr schämen!“
Kaum war die Waldfee aber verschwunden, sprang eine Ziege herbei und bemerkte die frischen, grünen Blätter. Gierig zupfte sie ein Blatt nach dem anderen von seinen Ästen und kaute genussvoll daran. „Mmmh, die schmecken aber lecker!“, meckerte die Ziege.
Da war der kleine Tannenbaum wieder kahl und nackt, kein Blatt bedeckte seine dürren Äste. „Ach, wie ist das Leben doch ungerecht! Alle Bäume haben schöne, grüne Blätter. Nur mir werden sie dauernd genommen. Hätte ich doch wenigstens wieder grüne Nadeln, wie ich sie anfangs getragen habe. Mit denen war ich doch am besten bedient.“
Ein paar Vögel hörten sein Klagen und konnten es natürlich nicht lassen, die Botschaft an jeden weiterzugeben, dem sie begegneten. So erreichte der Wunsch des kleinen Tannenbäumleins auch die Waldfee.
Diese brauchte nur ihren grasgrünen, mit Moos bewachsenen Zauberstab zu schwenken, ein paar Zauberworte zu murmeln und schon hatte der kleine Tannenbaum seine grünen Nadeln wieder.
Ob das Tannenbäumlein nun endlich zufrieden war? Höchstwahrscheinlich schon. Denn weder Mensch noch Tier wagten es, ein Blatt vom kleinen Tannenbaum zu stehlen. Warum nicht? Weil die grünen, spitzen Nadeln stechen.
Märchen von Carmen Kofler frei nach einem Gedicht von Friedrich Rückert