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Samstag, 16. November 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Wie ein Schafhirt reich wurde

Ein Hirt weidete auf der Wiese seine Schafe. Es war ein heißer Sommertag, und die Herde verlief sich in den benachbarten Wald, um vor der Hitze geschützt zu sein. Als sich der Hirt vergebens bemüht hatte, die Schafe zusammenzutreiben, wurde er zornig, und die Herde sich selbst überlassend, ging er fort in die weite Welt.

Der Schäfer war das Gehen gewohnt, daher dauerte es gar nicht lange, und er stand vor dem Tor der Hauptstadt, die er noch nie gesehen hatte. Ihm kam daher vieles wunderbar vor, und er blieb oft mit aufgesperrtem Mund stehen wie die Kuh vor der neuen Stalltür. Unter anderem gewahrte er einen Mann mit blauen Beinkleidern und weißem Rock.

Erstaunt über solche Kleidung, fragte er einen Nebenstehenden: „Freund, könnt Ihr mir nicht sagen, was das dort für ein Herr ist, der blaue Beinkleider und einen weißen Rock trägt?“

„Das ist ein Soldat“, erwiderte der Gefragte.

„Soldat? Was ist denn das, ein Soldat?“ fragte abermals der Hirt.

„Der Soldat steht im Dienst des Königs, wofür er Geld bekommt; er muß Wache stehen und in den Krieg ziehen“, sagte der Städter.

„So ein Stand möchte mir gefallen“, erwiderte der Schäfer. „Könnte ich wohl Soldat werden?“

„Das versteht sich, und Ihr kämet dem König gerade recht, denn jetzt braucht er viele Leute, da es mit dem benachbarten König wahrscheinlich zum Krieg kommt.“

Nachdem der Hirt noch über verschiedenes gefragt hatte, ging er ins königliche Schloß und ließ sich anwerben. Schon am anderen Tag schritt der neugebackene Soldat stolz durch die Straßen der Hauptstadt und bildete sich auf seine Kleidung etwas ein.

Kaum konnte unser Soldat ein wenig mit dem Gewehr umgehen und bald rechts, bald links sich drehen, so kam schon die Reihe an ihn, Wache zu stehn, und zwar in der Nacht. Dies hätte ihn nicht eingeschüchtert, denn er war kein Hasenherz, aber es stand diesmal, wie er von einem Kameraden hörte, das Leben auf dem Spiel. Der Soldat sollte nämlich beim „Teufelsfelsen“ von elf bis zwölf Uhr wachen, und um diese Zeit trieb dort der Teufel sein Unwesen, und der hatte schon manchen wachehaltenden Soldaten in Stücke zerrissen. Der Hirt wurde ganz außer sich und dachte nach, wie er dieser Gefahr entkommen könne. Während seine Kameraden zu Mittag in der Kaserne ihr Mahl verzehrten, machte sich der Schäfer unbemerkt reisefertig und verließ so schnell, als es eben ging, die Stadt. Außerhalb derselben begegnete er einem Greis, welcher den Soldaten nach der Ursache seiner Eile befragte. Der Hirt, gewöhnt, offen und wahr zu reden, vertraute sein Vorhaben dem alten Mann.

Dieser sprach: „Mein Sohn, du begehst eine schlechte Tat, indem du wegläufst; kehr zurück, stell dich auf den gefürchteten Posten, vergiß nur nicht, mit dem geweihten Bajonett einen Kreis um dich zu ziehen. Folgst du meinem Rat, so wird dir kein Haar gekrümmt.“

Die Worte des Alten gingen dem jungen Ausreißer zu Herzen. Er machte rechtsum und schritt in die Stadt zurück.

Es hatte noch nicht elf geschlagen, als unser Soldat schon bei dem „Teufelsfelsen“ stand, und da er nach dem Rat des Greises einen Kreis um sich gezogen hatte und auf diese Weise seine Haut den Krallen und Zähnen des Teufels entzog, harrte er mutvoll der Dinge, die da kommen sollten. Um elf Uhr kam der böse Geist und rannte auf die Wache los.

Vor dem Kreis angelangt, konnte er nicht weiter und schrie vor Zorn schnaubend: „Komm heraus, sonst zerreiße ich dich!“ – Der Soldat gab weder eine Antwort, noch rührte er sich von der Stelle. Der Teufel rief dasselbe noch zweimal, aber umsonst; hierauf sprach er gelassen: „Du bist der erste, der meiner Macht Trotz geboten hat. Für diese Tat sollst du einen Lohn von mir haben. Komm mit mir!“

Der Soldat besann sich eine Weile und folgte dann dem Teufel. Dieser schritt rasch auf eine Stelle des Felsens zu, und dort schlug er mit einer goldenen Rute auf den Felsen, welcher sogleich aufsprang. Beide traten in das Innere ein. Hier zeigte der Teufel dem erstaunten jungen Soldaten eine Menge Gold, Silber und schöne Perlen.

Als beide sich verabschiedeten, übergab der Teufel dem Hirten drei wertvolle Sachen und sprach: „Brauchst du Geld, so komm zu diesem Felsen, schlage mit der goldenen Rute, die ich dir da schenke, auf denselben, und er öffnet sich dir, worauf du so viel von den Schätzen nehmen kannst, als du nötig hast. Dieses Fläschchen enthält eine Flüssigkeit von der Beschaffenheit, daß ein mit derselben befeuchtetes Schloß sich sogleich öffnet. Das dritte ist diese schwarze Wurzel. Legst du sie auf ein Häuflein Geld, so wird augenblicklich das gerecht erworbene von dem ungerecht erworbenen geschieden.“ Nachdem der Teufel dies gesagt hatte, verschwand er.

Der Soldat wollte sich auf seinen Posten begeben, jedoch es stand schon ein anderer Wache. Er ging nun zu seinem Vorgesetzten und erzählte, wie es ihm ergangen war. Da er sich nun ohne große Mühe genug Geld verschaffen konnte, kündigte er dem König den Dienst und führte von nun an ein bequemes Leben, vergaß aber dabei die Armen nicht. So schenkte er seinem Schuhmacher, der sehr bedürftig war, für jedes Putzen der Stiefel einen Dukaten. Der arme Schuhmacher pries auch, wohin er nur immer kam, die große Freigebigkeit seines Wohltäters.

Eines Morgens sprach der reiche Schäfer zum Schuhmacher, welcher eben die Stiefel gebracht hatte: „Ich habe dir schon viel Gutes getan, aber es ist noch zuwenig. Ich will dich zu einem reichen Mann machen; komm daher heute zu mir, wenn es dunkel geworden ist.“

Vor Freude außer sich, verließ der Schuhmacher den Schäfer und hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als allen Leuten, denen er begegnete, das ihm bevorstehende Glück auszuposaunen. Einer erzählte es dem andern, und so ging die Nachricht durch die Stadt, bis es selbst der König erfuhr.

Dieser ließ den Schuhmacher vor sich rufen, und nachdem er ihn über die Sache genau befragt hatte, sprach er: „Ich werde dich auch reich machen, wenn du mich heute anstatt deiner mit dem Schäfer gehen läßt und mir deine Kleider borgst.“

Der Schuster willigte ein und versprach, darüber zu schweigen. Als es dunkel wurde, begab sich der verkleidete König zum Schäfer, welcher ihn schon erwartete. In der Dunkelheit blieb der König unerkannt. Beide gingen nun in das Haus eines wegen Betrug und Wucher berüchtigten Kaufmanns. Mit dem Zauberwasser befeuchtet, sprangen alle Schlösser auf, und so gelangten sie bis zur Kasse. Nachdem diese geöffnet war, legte der Schäfer die schwarze Wurzel auf das Geld, und siehe da -fast die Hälfte des Geldes, nämlich das ungerecht erworbene, flog heraus und wurde vom König aufgefangen, da ihm der Schäfer zurief: „Greif nur zu! Nimm, soviel du kannst!“

Als beide das Haus des Kaufmanns verließen, sprach der verkleidete König: „Jetzt gehen wir wohl in die königliche Schatzkammer, nicht wahr?“

„Hast du denn nicht schon genug an diesem, daß du noch mehr verlangst? Ich war noch nicht drinnen und gehe auch heute nicht hinein“, antwortete der redliche Schäfer. Der König ließ ihm aber keine Ruhe, bis er nachgab und seine Schritte zum Schatzhaus richtete.

Im Innern desselben angelangt, legte der Schäfer abermals die schwarze Wurzel auf das aufgespeicherte Geld, aber nichts rührte sich von der Stelle. Der König horchte gespannt, bis der Schäfer ihm befehlen werde, zuzugreifen, aber dieser schwieg, und als der König mit der Hand in das Geld fuhr, um einiges mitzunehmen, sprach der Schäfer voll Entrüstung über die kecke Tat: „Augenblicklich laß ab von dem, oder ich hau dir den Arm entzwei; denn merke dir’s: Ich nehme nur das ungerecht erworbene Geld.“

Gleich darauf verließen beide das Schatzhaus, und vor der Tür desselben nahmen sie Abschied voneinander.

Da sprach der Schäfer zu dem vermeintlichen Schuhmacher: „Weil du arm warst, so wollte ich dich reich machen, aber kaum hast du den Glanz des Goldes gesehen, so wirst du auch schon habsüchtig. Geh von mir, erwarte nie mehr eine Unterstützung.“

Am anderen Tag ließ der König den Schäfer holen und belobte ihn wegen seiner Ehrlichkeit, nachdem er demselben das Geheimnis der vorigen Nacht offenbart hatte. Dann bat er ihn, er möge auf diese Weise fortfahren, den Armen zu nützen. Der Schäfer tat dies auch und lebte so, sich und andere Leute glücklich machend. Bevor er starb, vermachte er die drei Zauberdinge dem König.

Quelle: Theodor Vernaleken, Kinder- und Haus- Märchen aus Österreich, Wien 1863

Samstag, 9. November 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Das Zauberpferd

In einer Stadt wohnte ein reicher Kaufmann, der hatte hinter seinem Haus einen großen, prächtigen Garten, in dem auch ein Stück Land mit Hirse bebaut war. Eines Tages spazierte er in seinem Garten und sah zu seinem großen Ärger, dass ein Teil des Hirselandes von frecher Diebshand abgegrast worden war. Er beschloss, den Dieb zu fangen und streng zu bestrafen.

Er rief seine drei Söhne, Michel, Georg und Johannes, und sagte zu ihnen: „Heute Nacht war ein Dieb in unserem Garten, der hat mir ein Teil meiner Hirse abgegrast. Ihr, meine Söhne, müsst nun in der Nacht Wache halten – einer nach dem andern. Wer den Dieb ergreift, den will ich reich belohnen.“

Der älteste, Michel, wachte die erste Nacht. Er nahm sich Pistolen mit, einen scharfen Säbel, auch zu essen und zu trinken, hüllte sich in einen warmen Mantel und setzte sich hinter einen blühenden Holunderbusch. Aber nicht lange, schlief er ein. Als er am Morgen erwachte, sah er, dass ein noch größeres Stück Hirseland abgegrast worden war.

Die andre Nacht wachte Georg. Er nahm sich auch Pistolen und Säbel mit, dazu aber noch einen Knüttel und starke Stricke. Aber der gute Wächter schlief ebenfalls ein und fand am Morgen, dass der Hirsedieb wieder tüchtig gegrast hatte. Da war der Vater sehr zornig und verspottete die guten Wächter.

Die dritte Nacht kam Johannes an die Reihe. Er nahm sich keine Pistolen und keinen Säbel mit, sondern baute rings um sich Disteln und Dornen auf. Sobald er einnicken wollte, stachen ihn die Stacheln in die Nase, und gleich wurde er munter. Um Mitternacht hörte er von weitem ein Getrappel. Es kam näher und näher, schon hörte er es vom Hirseacker her.

„Halt“, dachte Johannes, „wozu habe ich meinen Strick?“ Er zog ihn aus der Tasche, schob leise die Dornen zur Seite und schlich sich an den Dieb heran. Aber was sah er? Ein allerliebstes kleines Pferdchen. Es ließ sich leicht fangen und folgte ihm willig in den Stall. Wie freute sich Johannes! Dann ging er wieder zu Bett und schlief ein.

Frühmorgens weckten ihn seine Brüder und lachten und spotteten „Du bist wohl der allerbeste Wächter, hast nicht einmal die ganze Nacht auf Wache ausgehalten !“

Da führte Johannes Vater und Brüder in den Stall, wo das wundersame Pferdchen stand, von dem niemand sagen konnte, woher es gekommen und wem es gehöre. Es war von zartem Bau und dazu ganz silberweiß. Der Vater freute sich über alle Maßen und schenkte es Johannes als Belohnung. Der nahm es freudig an und nannte es „Hirsedieb“.

Nach einiger Zeit hörten die Brüder, dass eine schöne Prinzessin in dem Schloss am gläsernen Berg verzaubert wohne. Der Weg zum Schloss sei aber so glatt, dass ihn niemand gehen könne. Wer aber glücklich hinaufkomme und dazu noch dreimal um das Schloss reite, der würde die Prinzessin erlösen und sie zur Gemahlin bekommen. Viele junge Männer hatten schon den Berg hinaufreiten wollen, doch sie alle waren abgestürzt und tot liegen geblieben.

Die drei Brüder wollten auch ihr Glück versuchen. Michel und Georg kauften sich schöne, kräftige Pferde und ließen die Hufeisen tüchtig schärfen; Johannes aber sattelte seinen kleinen Hirsedieb.

Bald erreichten sie den gläsernen Berg. Der älteste ritt zuerst – aber ach, sein Ross stürzte, und beide, Ross und Reiter, standen nicht wieder auf. Nun ritt der zweite, aber ach – auch sein Ross glitt aus, und beide, Mann und Ross, blieben liegen. Dann ritt Johannes. Es ging trapp, trapp, trapp – und siehe, sie waren oben! Und weiter ging’s trapp, trapp, trapp – und dreimal waren sie ums Schloss geritten, so, als ob Hirsedieb schon hundertemal den gleichen Weg gelaufen wäre.

Jetzt stand der Reiter vor der Schlosspforte. Sie öffnete sich – und entgegen kam ihm eine wunderschöne Prinzessin, ganz in Seide und Gold gekleidet. Voll Freude empfing sie Johannes. Dann wandte sie sich an das Pferdchen und sprach: „Ei, du kleiner Schelm, bist mir entlaufen! So hab‘ ich nicht einmal die einzige Nachtstunde, die mir an Freiheit vergönnt ist, unten auf der grünen Erde verbringen können. Jetzt darfst du uns aber nie mehr verlassen!“

Da begriff Johannes, dass sein Hirsedieb das Zauberpferdchen der Prinzessin war. Seine beiden Brüder erholten sich einige Zeit später wieder von ihrem Sturz. Johannes aber sahen sie nie mehr wieder, denn Er lebte glücklich mit seiner Frau im Zauberschloss auf dem gläsernen Berg.

Quelle: Siebenbürgen 

Samstag, 2. November 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Der betrogene Teufel

Es war einmal ein junger Bursche, Berthold hieß er; dem waren Vater und Mutter gestorben und hatten ihm nichts hinterlassen, weder Geld noch Gut, und so stand er eines Tages arm und allein und ohne einen Freund auf der Welt. Jemand hätte er zwar schon gehabt, das war Gertrud, eine reiche Bauerntochter, die er heimlich liebte und die auch ihn gern hatte, denn er war ein sauberer und starker Bursche. Weil er aber so gar nichts hatte als seinen kärglichen Lohn und mit knapper Not ein ordentliches Werktags- und Sonntagsgewand, wollte es der Bauer nicht leiden, daß seine Tochter den armen Taglöhner heirate. Darüber war Berthold sehr traurig, saß oft an einem einsamen Platz im Walde und sann und sann und mußte immer nur das eine denken: „Ja, wenn ich reich wäre, dann würde ich die schöne und reiche Gertrud ganz gewiß zur Frau bekommen. Wie aber soll aus mir armem Kerl ein wohlhabender Mann werden? Das wird im Leben nicht so weit kommen, und was tu ich also eigentlich auf dieser ungerechten Welt. Am besten wär’s, ich würde einschlafen und nicht mehr aufwachen.“

Wie er nun wieder einmal so in düsteren Gedanken dasaß, stand plötzlich ein großer, fremder Jäger vor ihm – das war aber niemand als der Teufel – und sagte: „Ei, nur keinen solch trübseligen Gedanken nachspinnen, Bursche! Was drückt dich denn? Wo fehlt’s?“ – „Am Geld fehlt es mir. Reich sollt‘ ich sein!“ antwortete Berthold bitter. „Wenn es weiter nichts ist“, sprach der Teufel, „dazu kann ich dir leicht verhelfen. Du brauchst mir nur deine Seele dafür verschreiben.“ – „Die sollst du nach meinem Tod gerne haben; ich fange ja dann doch nichts mehr mit ihr an“, sagte Berthold; „aber jetzt will ich mich freuen mit ihr, wenn ich reich bin und das Mädchen, das ich schon lange gerne möchte, zur Frau bekommen habe.“ So ging also der arme Berthold in seiner Not den Pakt mit dem Teufel ein, bekam gleich einen Stumpen Gold ausgehändigt und war vom Tage an der reichste Mann im Lande.

Es dauerte auch gar nicht lange, da gab ihm der Bauer seine Tochter und ließ die Hochzeit zurichten. Als aber die Feier gerade am schönsten war und das junge Brautpaar bei Flöten- und Geigenspiel den ersten Tanz miteinander tanzte, da ging plötzlich die Tür auf und der Teufel trat herein, um den versprochenen Lohn abzuholen. „Du siehst doch, ich halte gerade Hochzeit; da kann ich dir doch meine Seele nicht geben. Jetzt will ich erst recht anfangen zu leben! Komm in fünfzig Jahren wieder vorbei und frage nach“, sagte Berthold und wollte wieder in den Saal zurück und zum Tanz gehen. So ließ sich aber der Teufel nicht abfertigen und bedachte, wie er sich heute noch des Burschen Seele mit List verschaffen könnte. „Höre!“ sagte er drum zu Berthold, „ich will dich fortan ungeschoren lassen und auf deine ärmliche Menschenseele verzichten, wenn du mich mit irgendeiner Arbeit einen ganzen Tag lang beschäftigen kannst.“ – „Das müßte eine Kunst sein, dir für einen Tag Arbeit zu verschaffen“, dachte der Bursche und war mit diesem Vorschlag gleich einverstanden.

Er führte den Teufel vor das Dorf hinaus auf einen großen, abgemähten Fruchtacker und sagte: „So, diesen Acker sollst du umhacken!“ Dazu brauchte ein einzelner Mann sonst drei volle Tage; der Teufel aber war schon nach einer Viertelstunde damit fertig und forderte weitere Arbeit. Da nahm Berthold ein Simri Kleesamen, säte den auf dem Felde aus und sagte: „Lies den Samen wieder in das Simrimaß zurück! Es darf aber kein Körnlein liegenbleiben!“ Doch auch das war dem Teufel eine Kleinigkeit; er war in einer halben Stunde fix und fertig und verlangte neue Arbeit. Nun wurde aber dem Berthold allmählich doch höllenangst, und er kam jedesmal bleicher und aufgeregter in den Saal zurück. Die Braut merkte, daß da etwas nicht stimmte und fragte ängstlich und besorgt ihren Mann: „Warum bist du denn so blaß? Was hast du denn, daß du immer aus- und eingehst?“ Da gestand er seiner Frau alles und klagte ihr die Not und Gefahr, in der er schwebte. Als sie ihn angehört hatte, fing sie aber nicht etwa zu weinen und zu jammern an, sondern lachte und sprach: „Oh, hättest du mir das doch gleich zu Anfang gesagt! Ich kann dir helfen, mein lieber Berthold!“ Dabei zupfte sie sich eins ihrer kurzen, krausen Haare aus, gab es ihm und sagte: So, nun bring das dem Teufel und verlange von ihm, daß er es gerade machen solle.“ – „Was habe ich doch für eine kluge Frau!“ sagte Berthold, gab seiner Braut einen Kuß und eilte so schnell er konnte auf den Hof hinaus. Als der Teufel das Haar nur sah, schnitt er schon ein Gesicht wie neun Tage Regenwetter, zupfte und zog und bog voll Wut an dem Härchen herum und legte es zuletzt sogar auf den Amboß, um es mit dem schweren Schmiedehammer gradzuklopfen. Doch es war alles umsonst; er konnte diese Arbeit an einem Tage nicht zustande bringen. Das Haar blieb kraus, und der Teufel war um seinen Lohn betrogen. Voller Freude kehrte Berthold zu seiner Braut zurück, tanzte und feierte mit ihr bis in den frühen Morgen hinein und lebte nun mit seiner Frau in Glück und Wohlstand bis an sein Ende.

Quelle: Schwäbische Volksmärchen – Franz Georg Brustgi 

Samstag, 26. Oktober 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Zottelhaube

Es waren einmal zwei ungleiche Schwestern. Fast zugleich erblickten sie das Licht der Welt, doch sie konnten nicht verschiedener sein. Einmal glücklich da, hielten sie immer zusammen.

Aber bis die beiden endlich in unseren Kreis treten! Das dauert lange.

‚Viel zu lang dauert mir das‘, dachte die Königin. ‚Die Zeit verrinnt. Jetzt wird sie allmählich knapp. Der König und ich, wir kriegen und kriegen und kriegen kein Kind. Das Volk hat schon aufgehört, sich zu wundern. Der Hofstaat hat aufgehört, sich in die Ohren zu tuscheln. Der Herr Gemahl hat aufgehört, mich anzusehn. Und dieser ganze weite Spiegelsaal dröhnt mir die Ohren voll. Ach, Schwermut und Stille, das klingt lauter als alles Kindergeschrei‘.

Da riß die Königin rasch ein Fenster auf, schaute ins Weite und dann auf den Platz. Dort unten spielten Kinder Verstecken. Eins hielt sich hinter dem Wachhäuschen verborgen. Eins kauerte unter dem Tisch der Spargelverkäuferin. Ein drittes drückte sich lang und dünn an den Stamm der Kastanie. Ein Kind sollte die anderen suchen, blickte aber just in diesem Augenblick auf, sah die Königin oben an ihrem Fenster und begann heftig zu winken.

Die Königin winkte schweren Herzens zurück.

Nicht lange darauf bestellten Königin und König einen Mann ein. Der erschien und war beflissen und übergab eine Kassette. Der Kasten war mit grünem Leinen überzogen. Darin Bilder von großäugigen Kindern.

„Wähl Du eins.“

„Nein, zieh Du eins.“

Am Ende schickten die beiden den Mann wieder fort.

Eine gute Frau vom anderen Ende der Hofstraße brachte eins ihrer Mädchen. Das spielte und schlief im Palast und durfte sogar nachmittags dem Teefräulein zur Hand gehn.

An einem hellen Sommertag segelte dem Kind eine Papierschwalbe aus dem offenen Fenster. Sie rannte die Treppen hinunter, eilte hinaus auf den Schloßplatz, um den Flieger zu retten. Wie sie wieder hinauf ging, hielt sie den Papierflügler sicher in der einen Hand. Mit der anderen aber zog und zurrte sie ein armseliges Bettlermädchen hinter sich her.

„Wen hast Du da mitgebracht, ach herrje“, rief die Königin aus. „Du bist aber ein besonders lumpiges Bettelkind. Bleib vom Teppich, nimm einen Keks. Gruß an die Eltern.“

„Bist Du die Königin, die keine Kinder bekommt?“ So sprach das Bettelmädchen. „Meine Mutter sagt, sie kann Dir welche verschaffen.“

„Solche wie von Deiner Sorte?“, fragte die Königin mißtrauisch. „Das Königshaus dankt.“

„An Deiner Stelle wäre ich ein wenig mehr interessiert“, entgegnete das schmutzige Kind. „Frag nur die Mutter.“

„Will sich die auch noch einschleichen? Hier, eine letzte Katzenzunge. Und dann ab.“

„Frag nur die Mutter. Wirst schon sehn.“ Und das Schmuddelkind stemmte sich breitbeinig vor die königliche Hoheit, die Hände fest in die Hüften gestützt. Es warf die Schultern zurück und wölbte einen nicht vorhandenen Bauch.

„Jetzt muß ich mich gar im eigenen Palast verspotten lassen“, klagte die Königin. „Nun spring los, geh die Mutter holen.“

„Wein liebt sie. Die Alte nämlich. Roten Wein und süßen Kuchen. Tisch ihr nur starken Wein auf, dann taut sie gleich auf. Gläser nicht notwendig.“ Das Kind rannte los.

Die schmutzige Alte erschien so schnell unter der Tür, als hätte sie draußen gelauert. Sie delektierte sich am Wein, dann am Kuchen, dann wieder am Wein. Verlangte nach einer zweiten Flasche.

„Die gibt es mit auf dem Weg. Jetzt gib Du mir erst mal was“, verlangte die Königin. „Ich will und will und will ein Kind. Wie Du sicher schon weißt.“

„Noch hat der Wein meine Zunge nicht gelöst,“ meinte die scheußliche Alte. Doch das Bettelmädchen nahm ihr schnell die Flasche vom Tisch und das Weib lenkte ein.

„Zwei Schüsseln mit Wasser laß abends in Deine Waschkammer tragen. Benetz Dein Gesicht mit dem ersten Wasser. Die Hände säubere aber in der zweiten Schale. Ruf den König herein. Schütte alles Waschwasser über seine Füße. Am nächsten Morgen, wenn Du nachsiehst, ist vom Boden alle Feuchtigkeit verschwunden. Doch dafür stehen zwei Blumen, eine schöne und eine häßliche. Die schöne sollst Du brechen, klein schneiden und auf einem Butterbrot verspeisen. Die häßliche laß stehn.“

„Ich muß mir das alles sauber notieren“, seufzte die Königin. „Sonst mach ich am Ende noch etwas falsch.“

Die Königin tat, wie geheißen. Zwei große weiße Porzellanschüsseln voll Wasser; Gesicht und Hände benetzt. Den König kommen lassen. Alles über seine Füße gekippt. Den König beschwichtigt. Endlich das Licht ausgelöscht und eingeschlafen.

Zwei Blumen wuchsen am Morgen danach. Soll ich sie beschreiben? Die eine mit fleischigen Blüten, die andere ganz verwelkt. Die eine mit glänzenden Blättern, die andere glanzlos. Grün die eine, schwärzlich die andere. Die Königin hatte ihren Aufschrieb verlegt und schnitt deshalb kurzerhand beide Blumen ab. Sie halbierte ihr Butterbrot, belegte die Hälften mit dem feingehackten Grünzeug und verspeiste die Mahlzeit mit großem Genuß.

„Das wird schon nicht schaden. Viel hilft schließlich viel.“

Das tat es auch. Der Königliche Bauch schwoll an und füllte sich Tag um Tag mehr. Die Königliche Hoheit lächelte glücklich. Eines Tages aber legte sie sich ins Kindbett.

Eine nach der anderen, schlüpften die zwei ungleichen Schwestern heraus. Mit großem Ach und Krach kam die erste. Einen Rührlöffel hielt sie in der Hand! Auf einem Bock kam sie geritten! Was für ein Graus.

„Mama, wir sind da!“, krähte das garstige Kind.

„Gott helf mir, wenn ich deine Mama sein soll“, rief die Mutter.

„Keine Sorge. Wir drei schaffen das schon. Da kommt ja noch eine. Siehst, die ist viel hübscher als ich.“

Da seufzte die Königin und brachte auch noch die andere Schwester zur Welt.

Dieses Kind war so schön wie die Ältere häßlich. Der König freute sich über beide. Ob lieblich oder abstoßend, vor Gott und dem König ist jedes Kind gleich.

Die Ältere ritt auf dem Bock, sang, schwang wild den Löffel. Die Jüngere trippelte ihr hinterdrein, mit verklärtem Gesicht. Mutter, Zofen, sie wollten nicht zusehn. Sie trennten die beiden, nahmen die häßliche Schwester weg. Die Zweitgeborene schlüpfte ihnen durch die Beine, schlich hinüber zum Geschwister. Wo immer die eine war, da wollte die andere auch sein.

Auf der Straße klang es:

„Zottelhaube, Distelkind,

bockig wie ein Wirbelwind.“

So sangen die Kinder, so schrie lauthals die Ältere. Zottelhaube. Das Wort klebte an ihr wie eine schäbige Mütze. Sie trug es mit Stolz. Der Name blieb haften.

Die Schwestern wuchsen heran, die Jahre vergingen, ein jedes in seinem eigenen Takt. Die Königin blickte zum Fenster heraus. Sah eine wilde Kinderschar. Darunter Zottelhaube auf ihrem Bock, mit dem Löffel die freien Lüfte aufrührend. Die hübsche Schwester im Pulk mit den anderen und ebenso wild.

In einer Julnacht ruckelte es in den Schornsteinen, trippelte es auf den Dächern, klapperte es in den Fluren. Die Trollweiber suchten den Palast heim. Hier wollten sie Weihnachten feiern; das Schloßvolk hielt sich wohlweislich versteckt.

„Die Trollweiber? Auf’s Dach will ich sie jagen!“ Der Zottelkopf war nicht zu halten. Die Schwester sollte derweil auf die Eltern aufpassen, sollte Sorge tragen, daß alle Türen wohl verschlossen blieben.

Zottelhaube ließ den Rührlöffel wirbeln und hetzte, hoch die Treppen, runter die Treppen, hinter den Trollweibern her. Im sicheren Hort freuten sich alle königlich. Was mußten diese Weiber auch immer zur Weihnachtszeit schwärmen. Auf dem Flur war es bald still. Der König öffnete beherzt die Tür. Unter ihm steckte die Schwester ihren Kopf aus dem Zimmer. Doch das war nicht klug.

„Gott helf mir, mein Kind hat einen Kalbskopf“, schrie die Mutter auf.

Da fegte die Ältere auf ihrem Bock den langen Flur zurück

„Ein Dummschädel! Bei diesen Eltern auch nicht verwunderlich!“, wütete Zottelhaube. Die weinende Schwester fuhr sich wieder und wieder über das Haupt. Zottelkopf überlegte nicht lange.

„Das muß sich ändern. So paßt Du mir gar nicht.“

Mit der Schwester mußte sie zu den Trollhexen reisen; davon brachte niemand die Bockreiterin ab.

„Vater, gebt mir ein Schiff, einen Steuermann, eine Mannschaft. Zwieback, soviel das Schiff trägt. Reisen macht hungrig.“

Schließlich lenkte der König ein. Kopfjägerin und kalbsköpfige Schwester brachen bald auf.

Wie mit der Feder gezogen segelte das Schiff geradewegs über die See und auf das Land der Trollhexen zu. Das Schiff glitt in den Hafen hinein.

„Das ist kein Geschäft für euch. Wer sich rührt, kriegt eins mit dem Löffel“, drohte Zottelhaube Schwester und Reisegefährten. Sie selbst lenkte den Bock aufs Land und trabte den Anweg zur Trollburg hinauf. Da stand schon der schöne Kopf ihrer Schwester, auf einem Fenstersims. Ach, Tränen strömten aus den Augen, flossen die Wangen hinab!

Zottelhaube preschte heran, griff sich das Schwesternhaupt, machte kehrt, stieß dem Bock in die Flanken. Schwirrend und wirbelnd brachen Trollgestalten aus allen Ecken hervor. Zottelhaube aber ließ den Rührlöffel kreisen; der brave Bock selbst keilte und rammte und stieß.

Entmutigt ließen die Tollhexen ab. „Haben wir nicht gut mit dem Trollvolk verhandelt?“, frohlockte die zottlige Jungfrau.

Die Mannschaft stand im Kreis, als Zottelhaube der schönen Schwester den Kopf wieder aufsetzte und ihn sorgsam zurecht schob. Wohin sollte es jetzt noch gehen? So früh schon in die Heimat zurück?

„Ich will und will und will noch was von der Welt sehn“, rief Schwester Wiederschön. Zottelhaube studierte die Karte.

„Wir sind ziemlich hier. Was man so Welt nennt, befindet sich hauptsächlich dort.“

Das Schiff nahm Kurs auf ein fernes Königreich. Dort ankerte es im Hafen. Und wieder befahl Zottelhaube:

„Dies ist kein Geschäft für euch. Verhaltet euch still. Wer sich rührt, den mische ich mit dem Breilöffel auf!“

Ein König, ein Witwer wohnte hier, mit seinem einzigen Sohn. Er schickte seine Leute aus, um nach dem seltsamen Schiff zu forschen. Sie erblickten ein häßliches Mädchen mit wirbelnden, zottligen Strähnen. Es ritt auf dem Bock, trieb ihn hart über das Deck.

„Sagt Eurem König, wir sind da!“, krähte das garstige Mädchen.

„Wer seid ihr?“, riefen die Männer zurück.

„Zottelhaube mit ihrer bildschönen Schwester.“

Zottelhaube

Eine Bockreiterin? Mit einer bildschönen Schwester? So ein Unfug! Der König eilte zum Strand. Zwei Schwestern erblickte er in trautem Gespräch. Ach, und er sah nur die Schöne und wollte fortan nichts anderes mehr sehn.

„Aufs Schloß? Dich gleich mir ihr verloben? Nichts da!“, schrie Zottelhaube vom Schiff herüber. „Versprich mir erst Deinen Sohn! Der soll mich nehmen, dann heiratet Dich meine Schwester.“

„Gott helf mir, ich will diesen Wirrkopf nicht haben“, klagte der junge Prinz. Vergebens. Für zwei Paare ließ der König die Hochzeit bestellen. Der Sohn war verzweifelt. Solch schweren Kirchgang hatte er noch nie unternommen.

In einer Kutsche fuhren König und des Zottelhaupts schöne Schwester voraus.

Der junge Prinz auf seinem Pferd hintendrein. Neben dem Rappen schnaubte der Bock. Zottelhaube ritt gleichmütig wie immer und schwang den Rührlöffel nach altem Brauch.

‚So jung bin ich noch und doch ist mir gar nichts mehr peinlich‘, dachte der Prinz bei sich. ‚Sofern ich diesen Gang überhaupt überlebe.‘

„Du bist recht still. Und das an unserem Freudentag“, bemerkte der Wildkopf.

„Ich trau mich nicht lauter freuen.“

„Auch fragst Du recht wenig.“

„Das ist, weil ich mich vor Deinen Antworten fürchte.“

„Frag doch mal, warum ich auf diesem häßlichen Bock reite“, schlug Zottelhaube vor,

Der Prinz seufzte.

„Warum reitest Du auf diesem häßlichen Bock?

„Ist gar nicht häßlich. Schau doch genau hin.“

Dies tat der Prinz. Just ebenda war aus dem Bock ein prächtiger Gaul geworden, stärker und höher als der Rappe des Jünglings.

‚Na und‘, dachte der Prinz. ‚Ein feuriges Pferd macht eine Braut doch nicht schöner‘.

Und wieder ritten beide stumm nebeneinander. Zottelhaube lächelnd, der Prinz sorgenvoll und bedrückt.

„Warum manche Prinzen gar nicht neugierig sind“, begann das wilde Mädchen aufs Neue.

„Ehrlich gesagt, will ich gar nicht so viel wissen.“

„Frag doch mal, warum ich diesen blöden Breilöffel schwinge.“

Der Prinz seufzte wieder.

„Warum schwingst Du diesen blöden Breilöffel?“, fragte er schließlich.

„Ist gar nicht blöde. Schau doch genau hin.“

Und wie er so hinsah, verwandelte sich der stumpfe Kochlöffel in eine lange Reitgerte. Zottelhaube, die vortreffliche Reiterin, hielt sie lässig und sicher.

Und weiter ging es. Der Prinz blieb in sich gekehrt wie ein paar vom Wind verwirbelte Blätter am Wegrand.

„Ich weiß, was Du mich eigentlich fragen willst“, warb Zottelhaube wieder um ihn.

Als Antwort kam nur ein Seufzer. Aus tiefstem Herzen. Doch das ließ der Wildfang, das lassen wir gelten.

„Frag doch mal, warum ich diese grauslige Zottelhaube trage.“

Ein weiteres Mal wollte der Prinz aufseufzen. Doch er fragte stattdessen:

„Warum trägst Du diese grauslige Zottelhaube?“

„Ist gar nicht grauslig. Lieber Dummkopf, schau doch genau hin.“

Dies tat der Prinz und sah die Verwandlung mit eigenem Auge. Da schwadronierte kein rauhbeiniges Frauenzimmer, da ritt neben ihm auf einmal das beste Mädchen der Welt. Nichts mehr zu sehen vom zottligen, haarigen Filz. Jetzt warf ein Blondkopf das prächtige Haar.

„Leider nur mittelblond,“ lachte die Braut.

„Die Farbe von Weizen und Sommer“, antwortete der Prinz.

Bevor die beiden Schwestern in die Kirche traten, wandten sie sich noch einmal um, faßten sie sich an der Hand, blickten sie über die See.

„So verschieden“, sagte die eine.

„Doch immer dieselbe“, sagte die zweite.

Quelle: Unbekannt

Samstag, 19. Oktober 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Der Sterndeuter oder: Der unglückliche Irrtum

Es war mal ein Fürst in Persien. Dieser hatte einen Sohn, der nach seinem Tode der Beherrscher seines Fürstentums werden sollte, und deshalb hatte er für ihn um die Tochter eines benachbarten Fürsten gefreit und auch das Jawort von diesem schon erhalten.

Der junge Badanazir (dies war der Name des Prinzen) hatte aber schon eine andere Liebe im Herzen, von welcher sein Vater nichts wusste. Der Kaiser von Pegu war neulich auf einer Reise, die er mit seiner Prinzessin Tochter gemacht hatte, durch die Länder des Fürsten von Persien gekommen und hatte bei dieser Gelegenheit den Vater Badanazirs besucht. Badanazir und Almira (so hieß die Prinzessin des Kaisers von Pegu) liebten einander, sobald sie sich sahen, denn die Prinzessin war sehr schön und der Prinz nicht hässlich. Da sie aber wussten, dass der Kaiser von Pegu ein sehr stolzer Herr war, der gewiss seine Tochter dem Sohne eines bloßen Fürsten nicht gegeben haben würde, wenn er um sie angesprochen worden wäre, so mussten sie ihre Liebe vor ihm sehr geheimhalten.

Es hatte aber die Prinzessin von ihrem Vater zwei sehr große Raritäten zum Geschenk erhalten. Die eine war ein Diamant, so groß wie mein Daumen, in welchem das Bild der Prinzessin vermittelst einer Kunst eingegraben war, die nachher verloren gegangen ist. Die andere war ein Wurfspieß, der von sich selbst hinflog, wohin man ihn wünschte. Diese zwei seltenen Stücke hatte die Prinzessin, wie schon gesagt, von ihrem Vater zum Geschenk bekommen, und Badanazir erhielt bei ihrer Abreise als ein Pfand ihrer Liebe den Diamant. Den Wurfspieß aber behielt sie und verbarg ihn sorgfältig in einem Kasten. Der Prinz dankte ihr auf das Verbindlichste für dieses Geschenk und versprach, sie heimlich zu besuchen.

Nach der Abreise des Kaisers drang der Fürst von Persien in seinen Sohn, sich mit der Tochter des benachbarten Fürsten zu verbinden. Badanazir hatte aber keine Ohren hierzu, und da es sein Vater mit ihm zu bunt trieb und mit aller Gewalt auf diese Verbindung bestand, so beschloss er, sich heimlich von seinem Vater wegzumachen und sich zu seiner Geliebten Almira zu begeben.

Er hatte zwei Günstlinge, die bei ihm die vier Stellen eines Sekretärs, eines Stallmeisters, eines Haushofmeisters und eines Kammerdieners vertraten. Der eine hieß Jerub und der andere Rur. Diesen entdeckte er die Absicht seiner Reise. Jerub suchte sie ihn mit allem Eifer eines treuen Dieners, der ihm nicht missfallen wollte, auszureden und stellte ihm vor, wie viel er wagte und wie sehr er seinen Papa durch diese Flucht betrüben würde. Aber Rur hob alle Zweifel auf und bestärkte ihn in seinem Vorhaben.

Der Prinz hatte nicht Geld genug zu einer so langen Reise. Jerub würde ihm keines verschafft haben. Aber Rur versah ihn damit. Er entwendete auf eine geschickte Art den Diamant seines Herrn, ließ einen falschen danach machen, den er an dessen Stelle legte, und verkaufte den echten gegen einige tausend Goldstücke, die er dem Prinzen gab.

Als Badanazir dieses Geld hatte, so wurde auch alles zu seiner Abreise bereitet. Man belud einen Elefanten mit seinem Gepäck und sie schwenkten sich auf die Pferde. Jerub sagte zu seinem Herrn:

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen wegen Ihres Vorhabens Vorstellungen zu tun. Da Sie diese aber nicht befolgen wollen, so muss ich gehorchen. Ich liebe Sie und will Ihnen bis ans Ende der Welt folgen. Aber lassen Sie uns zuvor den klugen Mann zu Rate ziehen, der zwei Meilen von hier wohnt.«

Badanazir ließ sich diesen Vorschlag gefallen und sie begaben sich dahin.

Dieser kluge Mann war ein berühmter Sterndeuter, der seine Wohnung in einem Walde aufgeschlagen hatte. Er gab seine Prophezeiungen in einem Saal, der von Lauben und bedeckten Gängen formiert war und um welchen rund herum eine doppelte Rasenbank ging. Er hatte auf der Erde einen großen Kreis gemacht, in welchem verschiedene Figuren vorgestellt waren, die er zu seinen geheimnisvollen Arbeiten brauchte. An seiner linken Seite hingen eine gewaltige Menge Täfelchen und an der rechten trug er eine goldene Kiste nebst vielen Ringen von verschiedener Größe. Er steckte jeder Person, die ihn um Rat fragte, einen an den kleinen Finger. Derjenige, den er an die rechte Hand steckte, hatte die Kraft, dass man das Gute erkannte, und der andere, das Böse vorherzusagen. Er grub auf zubereitete Baumblätter einen jeden der Buchstaben des Namens, den man führte, sodass er zu jedem Buchstaben ein anderes Blatt nahm, und nachdem er sie mit seinen Täfelchen untereinander geworfen hatte, auf welchen alle verschiedene Konstellationen nach den Figuren abgemalt waren, mit welchen die Buchstaben des Namens zusammentrafen, so weissagte er alles, was man wissen wollte. Der Bau seines Körpers machte ihn nicht weniger zu einem außerordentlichen Menschen als seine Wissenschaft. Er war sehr klein, aber ganz entsetzlich dick; er hatte eine hohe Stirn, schielende Augen, eine krumme Nase, breite Ohren und einen kurzen und gekräuselten Bart. Der Ton seiner Stimme war gellend, weil er durch die Fistel redete.

Badanazir empfand bei seinem Anblick einen Schauer, den er nicht verbergen konnte. Er sprach ihm aber Mut zu, und nachdem er ihn mitten in den Kreis, den er auf die Erde machte, hatte niedersetzen lassen, fing er seine gewöhnlichen Beschwörungen an. Als er damit fertig war und die Buchstaben Badanazirs mit seinen Täfelchen vermengt hatte, gab er folgende Antwort:

»Wenn Du gegen Morgen gehst, wirst Du gegen Abend sein. Wenn Du besitzest, wirst Du nichts besitzen. Wenn Du ein Überwinder bist, wirst Du nichts überwinden. Wenn Du Badanazir bist, wirst Du nichts sein.«

»Daraus werd ein anderer klug«, sagte Badanazir zu seinen Günstlingen, nachdem sie sich wieder aus der Wohnung des Sterndeuters entfernt hatten. »Ich versteh kein Wort von dieser dunklen Antwort.«

Jerub behauptete, dass sie nichts Gutes bedeute. Aber Rur überredete ihn, dass sie für ihn sehr günstig wäre.

»Nehmen Sie sich in Acht!«, sagte Jerub.

»Fürchten Sie nichts!, sagte Rur, und dieser Diener hatte allezeit, wie man leicht denken kann, bei seinem Herrn recht, weil er seiner Leidenschaft und seinen Hoffnungen schmeichelte.

Nachdem sie eine geraume Zeit gereist waren, kamen sie endlich durch einen großen Wald. Hier lagerte man sich und wollte eben den Elefanten abladen, der das Mittagsbrot und das Tischzeug trug, als man gewahr wurde, dass Jerub und Rur nicht mehr bei der Gesellschaft waren. Die Bedienten suchten sie auf allen Seiten und erfüllten den Wald mit ihrem Geschrei. Aber sie kamen zurück, ohne etwas von ihnen ersehen oder gehört zu haben.

»Wir haben bloß gesehen«, sagten sie zu dem Prinzen, »dass ein Geier mit einem Adler stritt und dass er ihm alle seine Federn ausriss.«

Badanazirs Neugierde wurde durch die Erzählung von diesem Streite aufgeregt. Er ging an den Ort hin und sah weder Geier noch Adler. aber dafür sah er, wie sein Elefant, der noch ganz mit seinem Gerät beladen war, von einem großen Rhinozeros angefallen wurde. Das eine kämpfte mit seinem Horn und der andere mit seinem Rüssel. Das Rhinozeros lief davon, sobald es den Prinzen sah. Man führte den Elefanten zurück, aber man fand die Pferde nicht mehr. Die Bedienten waren bestürzt und der Herr in Verzweiflung, dass er auf einmal seinen lieben Rur, den klugen Jerub, den er sehr liebte, ob er gleich niemals seinem Rate folgte, und seine Pferde verloren hatte.

Nur die Hoffnung, sich bald zu den Füßen seiner geliebten Prinzessin zu werfen, richtete ihn wieder auf und machte, dass er sich wieder auf den Weg begab. Es begegnete ihm hier ein hässlicher Bauer mit einem Esel, dem er Stockschläge gab. Dieser antwortete auf die Schläge des Bauern durch ein häufiges Ausschlagen. Der Prinz nahm, wie man sich leicht vorstellen kann, die Partei des Esels. Hierauf nahm der Bauer die Flucht und sagte zu dem Esel:

»Du sollst mir es schon büßen!«

Der Esel dankte seinem Erretter mit: »Pah«, ging zu ihm hin, ließ sich liebkosen und liebkoste wieder nach seiner Art. Badanazir setzte sich auf ihn und nahm mit seinen Bedienten, wovon einige zu Fuß gingen und die andern auf dem Elefanten ritten, den Weg weiter nach Pegu.

Aber kaum saß der Prinz auf dem Esel, als sich dieses Tier umwandte, statt dass es hätte auf der Straße nach Pegu fortgehen sollen. Sein Herr lenkte vergebens die Zügel, schlug mit den Knien, gab ihm die Sporen, ließ den Zügel schließen, zog ihn wieder an, peitschte zur Rechten und zur Linken; aber alles war vergeblich, das hartnäckige Tier ließ sich nicht irre machen.

Da der Prinz mit seinem Esel sich noch so abäscherte, dass er über und über schwitzte, begegnete ihn ein Kamelhändler, der ihn nicht kannte und der zu ihm sagte:

»Landsmann, Ihr habt einen sehr boshaften Esel, der Euch hinbringt, wo Ihr nicht hin wollt. Habt Ihr Lust, mit mir zu tauschen, so könnt Ihr Euch für ihn zwei von meinen Kamelen aussuchen.«

Badanazir war dies recht, weil zufrieden, und dankte dem Himmel, dass er ihm einen so guten Tausch verschafft hätte.

»Jerub hatte sehr unrecht«, sagte er, »dass er behauptete, meine Reise würde unglücklich sein.«

Er setzte sich auf ein Kamel und das andere folgte ihm. So kam er zu seinem Gefolge zurück und befand sich wieder auf dem Wege zu seinem Glücke.

Aber kaum war er wieder einige Meilen gereist, als er von einem tiefen und breiten und starken Strome aufgehalten wurde, der über Klippen floss, die von Schaum ganz weiß waren. Die beiden Ufer waren so entsetzlich steil, dass man ganz schwindlig wurde und allen Mut verlor, wenn man hinunter sah. Es war kein Mittel, hinüber zu kommen, und man konnte weder zur Rechten noch zur Linken gehen.

»Ich fürchte doch«, sagte Badanazir, »dass Jerub recht hatte, meine Reise zu missbilligen, und ich großes Unrecht, sie zu unternehmen. Wenn er nur noch hier wäre, er könnte mir doch einen guten Rat geben. Oder wenn ich nur den Rur noch hätte, dieser würde mich trösten und gewiss ein Mittel finden, wie über den Strom zu kommen sei.«

Seine Verwirrung wurde noch durch die Bestürzung seines Gefolges vermehrt. Die Nacht war sehr finster und man brachte sie mit Wehklagen zu. Endlich schlief der Prinz vor Müdigkeit und Kummer ein.

Aber das Gott! Was war da nicht für Freude, als man bei Anbruch des Tages eine schöne marmorne Brücke sah, die von einem Ufer des Stroms zu dem andern ging. Alles schrie:

»Ist es möglich? Was für ein Wunder! Wagen wir es, darüber zu gehen?«

Der ganze Haufe war in Entzückung und Badanazir sagte:

»Gewiss, der Himmel ist mir günstig! Jerub wusste nicht, was er sagte, und Rur hatte Recht.«

Der Prinz begab sich nun mit seinem Gefolge über den Strom. Aber kaum waren sie hinüber, als auf einmal die Brücke mit einem entsetzlichen Krachen einstürzte.

»Desto besser!«, sagte Badanazir. »Der Himmel will nicht, dass ich in mein Vaterland zurückkehre, wo ich nur ein bloßer Fürst geblieben wäre. Ich werde Kaiser von Pegu werden. Wenn ich also dieses Kaisertum erhalte, werde ich mein kleines Fürstentum nicht besitzen. Ich werde Badanazir sein und werde es nicht sein.«

So erklärte sich der Prinz die Worte des Sterndeuters und setzte seine Reise wieder einige Meilen mit dem größten Vergnügen fort. Aber zu Ende des Tages wurde er mit seinem Gefolge auf einmal von einer unübersehbaren Reihe hoher Berge eingeschlossen. Alles geriet wieder in Verzweiflung und schrie:

»Der Himmel will, dass wir hier umkommen sollen. Er hat die Brücke zerbrochen und dies Gebirge hierher gesetzt, um uns alle Hoffnung zur Rückkehr zu nehmen. O Badanazir! O unglücklicher Prinz! Wir werden nie wieder in unser Vaterland zurückkommen!«

In der Seele des Prinzen wechselten jetzt der bitterste Schmerz und die tiefste auf die unmäßige Freude, die er vorher empfunden und auf die Hoffnung ihn trunken gemacht hatte. Jetzt legte er die Prophezeiung nicht mehr zu seinem Vorteil aus und sein Schmerz ergoss sich in Tränen mitten unter seinem verzweiflungsvollen Gefolge.

Aber auf einmal öffnete sich der Grund des Berges und ein langer, gewölbter und mit vielen Fackeln erleuchteter Gang zeigte sich den bestürzten Augen. Alles schrie jetzt Wunder! Wunder!

Badanazir war vor Freuden ganz außer sich. Er ging mit seinen Leuten, Elefanten und Kamelen unter dem Gewölbe des Berges fort und kam endlich auf eine schöne Wiese, die mit tausend Blumen geziert und von klaren Bächen durchschnitten war. Am Ende derselben fand er mit Bäumen besetzte Gänge und hinter diesen Gängen einen Fluss, an welchem Lusthäuser mit angenehmen Gärten lagen, und überall hörte er Konzerte von Stimmen und Instrumenten.

Er eilte über eine Brücke des Flusses und fragte den ersten Menschen, der ihm begegnete, was das für ein schönes Land wäre und wo er sich befände.

»Sie sind in dem Lande des Kaisers von Pegu«, sagte der Mann, »und Sie sehen die Einwohner voll Freude und Vergnügen, weil wir die Hochzeit unsrer schönen Prinzessin feiern, die sich mit dem Herrn Mummul, dem sie ihr Herr Vater versprochen hat, vermählen wird.«

Bei Endigung dieser Worte fiel der Prinz in Ohnmacht, und da der peguanische Herr glaubte, dass er der fallenden Sucht unterworfen wäre, so ließ er ihn in sein Haus tragen und schickte nach den geschicktesten Ärzten. Sie befühlten den Puls des Kranken, welcher, da er sich wieder ein wenig erholt hatte, in Tränen ausbrach, die Augen verdrehte und von Zeit zu Zeit rief:

»O, Jerub, Jerub! Du hattest wohl recht.«

»Ich höre an der Aussprache«, sagte einer der Ärzte zu dem peguanischen Herrn, »dass dieser junge Mann ein Fremder ist, der die Luft in dieser Gegend nicht vertragen kann, und sehe an seinen Augen, dass er nicht recht bei Verstande ist. Überlassen Sie ihn mir, ich will ihn wieder gesund machen und dann in sein Vaterland zurückschicken.«

Der andere Arzt aber riet, dass man den jungen Mann, der nur vor Kummer krank wäre, auf die Hochzeit der Prinzessin führen und tanzen lassen sollte, welches ihn gewiss von seiner Krankheit heilen würde.

Während die beiden Ärzte sich beratschlagten und Mittel zur Heilung des Kranken angaben, erholte sich dieser wieder und gab zu verstehen, dass die beiden Ärzte sich entfernen möchten. Nachdem man diese also abgefertigt hatte, blieb der Prinz mit seinem Wirt allein.

»Ich bitte Sie um Vergebung«, sagte er zu ihm, »dass ich in Ihrer Gegenwart ohnmächtig geworden bin. Ich weiß, dass das nicht höflich ist, aber ich kann nichts dafür. Ich bitte Sie daher, für Ihre Gütigkeit, meinen Elefanten zum Geschenk anzunehmen.«

Der peguanische Herr wollte sich zwar anfangs nicht zur Annahme dieses Geschenks verstehen, weil er, wie er sagte, sich ein Vergnügen daraus machen, jedermann, soviel in seinen Kräften stände, zu dienen und das um Gottes Willen. Da aber der Prinz mit Bitten noch ferner in ihn drang, so nahm er endlich das Geschenk an. Hierauf erzählte ihm der Prinz alle seine Begebenheiten, nahm sich aber wohl in Acht, ihm die Ursache seiner Reise zu entdecken.

»Aber ich beschwöre Sie«, schloss er endlich, »sagen Sie mir, wer der glückliche Mummul ist, der die liebenswürdige Prinzessin von Pegu heiratet, warum ihn ihr Vater zum Schwiegersohn gewählt und warum ihn die Prinzessin zum Gemahl angenommen hat?«

»O mein Herr«, sagte der Peguaner, »die Prinzessin will von dem Herrn Mummul ganz und gar nichts wissen. Sie zerfließt in Tränen,während das ganze Land mit Freuden ihre Hochzeit feiert. Sie hat sich in den Turm ihres Palastes eingeschlossen und will keine von den Ergötzlichkeiten mit ansehen, die man ihr zu Gefallen anstellt.«

Da der Prinz dieses hörte, ward er wie neugeboren und die Röte, die der Schmerz verlöscht hatte, erschien wieder auf seinem Gesichte.

»O, sagen Sie mir«, fiel er dem Peguaner ins Wort, »sagen Sie mir, warum der Kaiser von Pegu, der doch ein sehr stolzer Herr sein soll, seine Tochter mit Gewalt dem Herrn Mummul geben will, von dem sie doch, wie Sie sagen, nichts wissen will?«

»Die Sache verhält sich so«, erwiderte der Peguaner. »Seine Majestät unser allergnädigster Kaiser hatte einen Diamant und einen Wurfspieß. Beide schenkten sie ihrer Prinzessin Tochter. Nun begab sich’s aber nach einiger Zeit, dass Seine Majestät wieder nach diesen beide Stücken fragte und sie zu sehen verlangte, erfuhr aber mit Schrecken von der Prinzessin Tochter, dass ihr dieselben entwendet worden wären. Da nun aber diese beiden Kleinodien Seiner Majestät sehr am Herzen lagen, so gerieten sie in Verzweiflung, dass sie nicht erfahren konnten, wohin sie gekommen wären. Sie versprachen also demjenigen, der eins davon wiederbringen würde, Ihre Prinzessin Tochter zur Gemahlin. Da fand sich denn ein gewisser Herr Mummul, der den Diamant hatte, und den nun morgen unsre gnädigste Prinzessin heiraten soll.«

Der Prinz war voller Freuden über diese Nachricht, weil er sich noch in dem Besitz des Diamants glaubte, den er von seiner geliebten Prinzessin zum Geschenk erhalten, dem aber Rur heimlich entwendet und verkauft, dafür aber einen andern, unechten hingelegt hatte. Er nahm kurzen Abschied von seinem Wirt und eilte auf seinem Kamel in die Hauptstadt. Sobald er vor den Palast des Kaisers kam, bat er, dass man ihn vorlassen möchte, weil er dem Kaiser etwas sehr Wichtiges zu entdecken hatte. Aber man antwortete ihm, dass es jetzt nicht sein könnte, weil der Kaiser mit den Zubereitungen zur Hochzeit seiner Prinzessin Tochter beschäftigt wäre. Da er es aber gar zu notwendig machte, führte man ihn endlich doch vor den Kaiser, der ihn aber nicht kannte.

»Allergnädigster Herr«, sagte er zu ihm, »der Himmel bekröne die Tage Ew. Majestät mit Ruhm und Herrlichkeit. Ihr Herr Schwiegersohn ist ein Betrüger.«

»Wie? Was? Ein Betrüger!«, fiel ihm der Kaiser mit funkelnden Augen ins Wort, indem er sich den Bart strich. »Redet man so mit seinem Kaiser von Pegu von dem Schwiegersohn, den er selbst gewählt hat?«

»Ja, ein Betrüger!«, antwortete der Prinz entschlossen. »Und um es Ew. Majestät zu beweisen, so sehen Sie hier Ihren Diamant.«

Der Kaiser, der ganz erstaunt war, hielt die beiden Diamanten gegeneinander. Da er sich aber nicht darauf verstand, so konnte er auch nicht sagen, welches der rechte sei.

»Da sind zwei Diamanten«, sagte er, indem er bedenklich den Kopf schüttelte, »und ich habe nur eine Tochter. Hm! Hm! Das ist doch eine wunderliche Sache!«

Er schickte nach seinem künftigen Schwiegersohn und fragte ihn bei seiner Ankunft, ob er ihn etwa betrogen hätte? Herr Mummul schwor, dass er seinen Diamant von einem Armenier gekauft habe, der Prinz aber sagte nicht, wo er den seinigen her hätte, sondern schlug ein Mittel vor, wie die Sache entschieden werden könnte. Seine Majestät möchte ihm nämlich erlauben, auf der Stelle mit seinem Mitbuhler zu fechten.

»Es ist nicht genug«, sagte er, »dass Ihnen Ihr Schwiegersohn einen Diamant gibt. Er muss Ihnen auch Beweise von seiner Herzhaftigkeit geben. Erlauben Ew. Majestät, dass derjenige, der den andern erlegt, die Prinzessin heiratet?«

»Sehr gern«, antwortete der Kaiser. »Das wird ein sehr schönes Schauspiel für meinen Hof sein. Schlag euch geschwind miteinander. Der Überwinder soll, nach der hiesigen Gewohnheit, die Waffen des Überwundenen anlegen und meine Tochter zur Gemahlin haben.«

Auf diese Erklärung des Kaisers begaben sich die beiden Mitbuhler sogleich in den Hof hinab. Auf der Treppe saßen ein Rabe und eine Elster. Der Rabe schrie:

»Schlagt euch, schlagt euch«

Die Elster:

»Schlagt euch nicht!«

Der Kaiser musste darüber lachen, aber die beiden Mitbuhler ließen sich nicht irre machen. Sobald sie in den Hof kamen, schlossen die Hofleute einen Kreis um sie und sie machten sich zum Kampf bereit. Die Prinzessin, die sich beständig in ihrem Turm verschlossen hielt, wollte dieses Schauspiel nicht mit ansehen; sie ließ sich’s nicht einfallen, dass ihr geliebter Prinz in Pegu wäre, und hatte einen solchen Abscheu vor dem Herrn Mummul, dass sie ihn nicht sehen wollte, so sehr man sie auch bat, das Schauspiel mit anzusehen.

Unterdessen war der Kampf für den Prinzen sehr glücklich abgelaufen. Herr Mummul, der sich nicht aufs Fechten verstand, bekam gar bald seinen Rest und das Volk erhob über seinen Tod ein Freudengeschrei, weil er hässlich war, Badanazir aber sehr hübsch aussah.

Der Prinz zog nun das Panzerhemde des Überwundenen an, tat seine Leibbinde um, setzte seinen Helm auf und kam in Begleitung des ganzen Hofs und unter dem Schalle der Trommeln und Pfeifen unter die Fenster seiner geliebten Almira. Zum Unglück sah die Prinzessin eben durch das Fenster und da sie die Waffenrüstung eines Menschen erblickte, den sie verabscheute, lief sie voller Verzweiflung zu ihrer chinesischen Kiste, nahm den unglücklichen Wurfspieß heraus, wünschte ihn in den Leib des Überwinders und im Augenblick durchbohrte er den Prinzen ungeachtet des Panzers.

Badanazir tat einen lauten Schrei und stürzte zu Boden. An diesem Schrei glaubte die Prinzessin die Stimme ihres Liebhabers zu erkennen und stürzte mit zerstreuten Haaren und blassem Gesicht die Treppe herunter. Ich vermag nicht, den Schmerz und den Schrecken zu beschreiben, die sie befielen, als sie ihren geliebten Prinzen erkannte und in seinem Blute liegen sah. Sie fiel über ihn her und umarmte ihn.

»Nimm«, sagte sie zu ihm, »die ersten und die letzten Küsse deiner Liebhaberin, deiner Mörderin!«

Hierauf zog sie den Wurfspieß aus seiner Wunde, wünschte sich ihn ins Herz und stürzte tot über ihren Geliebten hin. Der Kaiser, der vor Schrecken halbtot war, suchte seine Tochter wieder ins Leben zurück zu rufen, aber umsonst! Sie war und blieb tot. Er verfluchte den unglaublichen Wurfspieß, brach ihn in Stücken und warf die beiden Diamanten weit von sich weg. Hierauf ließ er den blutigen Badanazir, der noch Zeichen des Lebens von sich gab, in seinen Palast tragen.

Das erste, was dem Prinzen, als er wieder zu sich kam, in die Augen fiel, war – Jerub und Rur, die an beiden Seiten seines Bettes standen.

»O Grausame!«, sagte er mit matter Stimme. »Warum habt ihr mich verlassen?«

»Ich habe Sie keinen Augenblick verlassen«, sagte Jerub.

»Ich bin immer bei Ihnen gewesen«, antwortete Rur.

»Wollt ihr in meinen letzten Augenblicken meiner noch spotten?«, sagte Badanazir.

»Sie können mir aufs Wort glauben«, antwortete Jerub. »Sie wissen, dass ich diese unglückliche Reise nach Pegu niemals gebilligt habe, weil ich die schrecklichen Folgen derselben voraussah. Ich war der Adler, der mit dem Geier kämpfte und ihm die Federn ausriss. Ich bin der Elefant gewesen, der Ihr Gerät forttrug, um Sie zu nötigen, in Ihr Vaterland zurückzukehren. Ich war der Esel, der Sie wider Ihren Willen nach Hause tragen wollte. Ich habe Ihre Pferde versteckt, ich habe den Strom geschaffen, der Sie verhinderte, weiter zu gehen. Ich habe die Berge hingesetzt, die Ihnen den Weg versperrten, ich war der Arzt, der Ihnen die Luft Ihres Landes anriet, und ich war auch die Elster, die Ihnen zurief, dass Sie sich nicht schlagen möchten.«

»Und ich«, sagte Rur, »ich war der Geier, der dem Adler die Federn ausriss, das Rhinozeros, das dem Elefanten Stöße mit dem Horn gab, der hässliche Bauer, der den Esel schlug, der Kamelhändler, der Ihnen für den Esel Kamele gab, um Ihrem Verderben entgegen zu eilen. Ich habe die Brücke über den Fluss geschlagen, über welche Sie gesetzt. Ich habe die Höhle gegraben, durch die Sie gegangen sind. Ich war der Arzt, der Ihnen das Tanzen riet, und der Rabe, der Ihnen zurief, dass Sie sich schlagen sollten.«

Bei Endigung dieser Worte bedeckten vier schwarze Flügel Rurs und vier weiße Jerubs Leib.

»Ist das Gott, was seh ich!«, sagte der Prinz erstaunt, als er die Veränderung gewahr wurde.

»Du siehst deine beiden Geniusse«, antworteten Jerub und Rur zugleich.

»Ei der tausend, meine Herrn«, sagte der unglückliche Badanazir zu ihnen. »In was haben Sie sich gemischt? Und wozu zwei Geniusse für einen armen Menschen?«

Es ist einmal die Mode so«, sagte Jerub. »Ein jeder Mensch hat zwei Geniusse. Ich bin dein guter Genius und mein Amt war, über dich bis auf den letzten Augenblick deines Lebens zu wachen. Ich habe es treulich verwaltet.«

»Und ich war dein böser Genius«, sagte Rur. »Mein Amt war, dich in dein Verderben zu stürzen. Und du musst gestehen, dass mir keine Mühe habe verdrießen lassen, dies zu bewirken.«

»Erinnerst du dich noch an den Ausspruch des Sterndeuters?«, fragte Jerub. »Wenn du gegen Morgen gehst, wirst du gegen Abend sein?«

»Leider!«, erwiderte der Prinz mit einem tiefen Seufzer. »Aber ich habe ihn nicht verstanden.«

»Deine Schuld«, sagte Rur. »Man begräbt hier die Toten mit dem Gesicht gegen Abend gekehrt. Der Ausspruch war deutlich genug, warum hast du ihn nicht begriffen? Du bist der Besitzer von etwas gewesen und du besitzest nichts; denn du hattest zwar den Diamant, aber er war falsch, weil ich den echten weggenommen und an einen Armenier verkauft hatte, damit du Reisegeld bekämst. Du bist Badanazir und ein Überwinder; aber du hörst auf, es zu sein, denn – du musst sterben.«

Mit diesen Worten drückte er seine zwei Daumen so fest auf die Schläfe des Prinzen, dass dieser tot auf sein Bette zurück sank.

Sein Leichnam wurde mit dem Leichnam seiner geliebten Almira nach dem Gebrauch dieser Völker zu gleicher Zeit verbrannt und ihre Asche in Krügen aufbewahrt.

Quelle: Christian August Vulpius aus »Ammenmärchen« 

Samstag, 12. Oktober 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Der blöde Peter

Es war einmal ein Knabe, den man allgemein den blöden Peter nannte. Seine Eltern waren frühzeitig gestorben, und so war er aufgewachsen, ohne etwas gelernt zu haben. Er verstand nur wie ein Singvogel zu schlagen und ahmte den Gesang der Lerchen täuschend nach.

Eines Tages hatte Peter einen gewaltigen Hunger, er ging deshalb in ein Bauernhaus und begehrte zu essen. Die Bäuerin gab ihm auch die Überreste der Mahlzeit, die er auf der Erde sitzend aß. Plötzlich kam ein Reiter daher, hielt bei dem Bauernhaus an und fragte, welcher Weg nach der Burg führe, die der stärkste Riese der Erde bewohne.

„Was wollt Ihr in der Burg machen?“ fragte die Bäuerin, die von der Burg wusste.

Der Reiter erwiderte: „Die goldene Schale holen, welche die Kraft hat, dass Kranke genesen, wenn sie aus ihr trinken, und dass Tote wieder erwachen, wenn man die Schale an ihre Lippen hält; dann die diamantene Lanze, die alles zerbricht und tötet, was man damit berührt.“

„Wem gehört denn die Burg?“ fragte Peter, und die Bäuerin gab zur Antwort: „Dem Riesen, einem Zauberer; es wohnt bei ihm noch ein Bruder, der ebenfalls ein Zauberer ist.“

Der Reiter aber sprach: „Mir hilft der Feind des Zauberers, jener hat mir alles gesagt, was ich tun soll.“

„Was hat er Euch denn gesagt?“ fragte Peter.

„Er hat mir gesagt“, erwiderte der Reiter, „zuerst müsse ich durch einen verzauberten Wald reiten, dann treffe ich auf einen Zwerg, der ein feuriges Schwert hat und einen Apfelbaum voll goldener Früchte bewacht, von welchen ich eine haben muss; dann finde ich die lachende Blume, die ein Löwe bewacht. Diese Blume muss ich pflücken und durch den Drachensee schwimmen und mit dem Riesen kämpfen, der eine Kugel hat, die nie ihr Ziel verfehlt. Nachher komme ich in einen Lustgarten, darf mich dort aber nicht verleiten lassen. Dann muss ich durch einen Fluss, an dessen anderem Ufer ich ein Weib finde. Das setze ich hinter mich aufs Pferd, und sie sagt mir dann, was ich weiter zu tun habe.“

Die Bäuerin zeigte dem Reiter den Weg, und er verschwand bald hinter den Bäumen.

Da kam der Bauer nach Hause und fragte den Peter, ob er bei ihm bleiben wolle, um das Vieh zu hüten. Peter sagte ja, und er wurde nun Viehhirte.

Eines Tages sah er einen Riesen daherreiten, der hatte eine diamantene Lanze. Peter hielt sie sogleich für die, von welcher der Reiter gesprochen hatte. Hinter dem Riesen lief ein Füllen. Peter sann weiter nicht darüber nach, und es vergingen mehrere Tage.

Da kam eines Abends ein alter Mann und blieb beim Wald stehen. Peter ging auf ihn zu und fragte: „Wer seid Ihr?“

Der Mann antwortete: „Ich bin ein mächtiger Zauberer, und mein Bruder ist ein Riese.“ Er machte dann in den Sand einige Kreise und murmelte mehrere Worte, und sogleich erschien das Füllen, das Peter früher gesehen hatte. Der Mann schwang sich auf dasselbe und jagte in den Wald.

Unserm Peter kam das sonderbar vor, aber er sagte keinem Menschen etwas von dem Gesehenen. Er versuchte ebenfalls das Füllen hervorzuzaubern; er machte deshalb ein paar Kreise in den Sand und murmelte einige Worte, aber das Füllen erschien nicht.

Als nun Peter den Riesen am nächsten Tag wieder in den Wald reiten sah, bekam er Lust, auch einmal nach jener Burg zu gehen. Er hielt deshalb immer einen Zaum samt einer Schlinge bereit, füllte einen Sack mit Federn und Vogelleim; auch streute er auf den Weg Brotkrumen, um das Füllen aufzuhalten, da er hoffte, dass der Riese am nächsten Tag wieder vorüberreiten werde. Der Riese erschien auch, das Füllen roch die Brotkrumen, blieb zurück und verzehrte sie. Als der Riese weit genug entfernt war, warf Peter dem Füllen geschwind den Zaum um und ließ sich von dem Füllen durch den verzauberten Wald tragen.

Bald erreichte Peter die Wiese, auf welcher der Apfelbaum stand. Diesen sah er von einem Zwerg bewacht, der ein feuriges Schwert hatte, welches alles vernichtete, was es berührte. Als der Zwerg den Peter sah, stieß er einen Schrei aus und schwang sein Schwert.

Peter aber zog die Mütze und sprach zu dem Zwerg: „Ich will zu der Burg, weil mich der Herr derselben bestellt hat.

„Wer bist du denn?“ fragte der Zwerg.

„Ich bin der blöde Peter, ein Vogelfänger, und muss nach der Burg, um Sperlinge zu fangen, denn der Herr derselben hat mich bestellt, und er gab mir darum sein Füllen.“

Der Zwerg erkannte das Füllen des Riesen und dachte, es müsse wohl wahr sein, und sprach zu ihm: „Nun, wenn du ein guter Vogelfänger bist, so fange mir einige, denn ich habe hier auch viele Sperlinge.“

Peter stellte sich nun, als ob er das Füllen an den Baum binden wollte; statt des Füllens aber band er die Schlinge an einem Zweig fest und rief dem Zwerg, er solle das andere Ende der Schlinge halten. Der Zwerg tat dies, Peter stieg auf den Baum, zog die Schlinge zu, und der Zwerg war gefangen. Peter pflückte geschwind einen Apfel, sprengte davon und ließ den an den Baum gebundenen Zwerg zappeln.

Nach einigen Stunden kam er auf eine Wiese, auf der es viele schöne Blumen gab. Aus der Mitte der Blumen ragte eine besonders schöne hervor, diese war die „lachende“. Der Löwe, der diese Blume bewachte, lief sogleich vom Feld herbei und zeigte Peter seinen Rachen. Peter zog seine Mütze, grüßte den Löwen und fragte, ob dieser Weg nach der Burg führe.

„Und was willst du denn dort?“ fragte der Löwe.

„Ich muss dem Herrn der Burg einen Sack Lerchen bringen.“ Der Löwe fragte abermals: „Wie viele hast du denn?“

„Den ganzen Sack voll“, erwiderte Peter und zeigte dem Löwen den Sack, welchen er mit Leim und Federn gefüllt hatte. Dann fing er an, den Gesang der Lerchen nachzuahmen, und dies täuschte den Löwen noch mehr.

„Zeig mir doch die Vögel“, sagte der Löwe, „ich will sehen, ob sie für unseren Herrn auch fett genug sind.“

„Sehr gern“, versetzte Peter, „aber wenn ich den Sack öffne, so fliegen sie mir davon.“

„So lass mich wenigstens ein wenig hineinschauen.“ Peter nahm den Sack, öffnete ihn ein wenig, und der Löwe fuhr gierig mit dem Kopf hinein, blieb aber zwischen dem Leim und den Federn stecken. Peter lief nun schnell zur lachenden Blume, pflückte sie und jagte davon.

Alsdann kam er zu dem Drachensee, den er durchschwimmen musste. Sogleich kamen die Drachen und öffneten ihre ungeheuren Rachen, um ihn zu verschlingen. Peter aber nahm schnell den aufbewahrten Speck aus der Tasche, warf jedem ein Stück in den Rachen und schwamm hurtig durch den See.

Als Peter an das andere Ufer des Sees kam, erblickte er sogleich den schwarzen Riesen mit der Kugel. Er saß an einem Felsen, seine Füße waren an demselben festgeschmiedet, und in der Hand hielt er die Kugel. In seinem großen Kopf hatte er sechs

Augen. Zum Glück für Peter waren gerade die zwei Augen geschlossen, welche nach ihm die Richtung hatten.

Peter stieg vom Füllen, verbarg sich hinter einem Gebüsch und fing nun wie eine Lerche zu singen an, wobei dem Riesen ein Auge zufiel. Darauf ahmte er den Schlag der Nachtigall nach, und es fielen dem Riesen noch zwei Augen zu. Dann pfiff er ein Liedchen auf seiner Pfeife, und das letzte Auge des Riesen schloss sich ebenfalls. Schnell eilte Peter zu seinem Füllen, zog es vor dem Riesen vorbei und gelangte so zu dem Lustgarten. Dies war ein Garten voll von schönen Früchten, Blumen, und an jedem Ende des Gartens standen gedeckte Tafeln voll der köstlichsten Speisen. Peter zog aber gleich seine Mütze über die Augen und gelangte so fort.

Nun musste er auch noch durch einen Fluss schwimmen. Am anderen Ufer saß ein Weib, das war schwarz gekleidet, und ihr Gesicht war gelb.

„Komm näher“, sagte sie, „dass ich mich zu dir auf das Pferd setzen kann.“

Peter ließ es geschehen und fragte: „Wie heißt Ihr denn?“ „Pest!“ versetzte das Weib.

Peter erschrak und wollte sich in den Fluss stürzen.

Die Pest aber sagte: „Bleib nur sitzen, denn ich helfe dir ja, dass der Zauberer stirbt. Du musst ihm den Apfel geben, den du von dem Baum gepflückt hast, der vom Zwerge bewacht war. Er wird davon kosten, dann berühre ich ihn, und er muss sogleich sterben.“

„Wie bekomme ich aber dann die Lanze und die Schale?“ fragte Peter.

„Die lachende Blume, welche du besitzt, öffnet dir alle Türen und selbst die eiserne Tür, welche das Zimmer schließt, in der die Lanze und die Schale liegen“, erwiderte das Weib.

Endlich erreichten sie die Burg. Der Zauberriese lag unter einem Thron und rauchte. Als er Peter sah, rief er: „Was, der blöde Peter reitet auf meinem Füllen?“

„Ja“, antwortete der, „ich bin es; dein Bruder gab mir das Füllen, um dir zwei Geschenke zu bringen, nämlich einen Apfel und dieses Weib, welches auf dem Pferd sitzt.“ Peter ließ das Weib absteigen und gab dem Riesen den Apfel. Der Riese aß sogleich von dem Apfel, da eilte die Pest hinzu, berührte ihn, und der Riese sank tot zu Boden. Peter aber durchwanderte alle Säle der Burg und kam endlich zu einer eisernen Tür; diese sprang vor der lachenden Blume auf, die er in der Hand hielt, und er fand dort die Schale und die Lanze.

Während er beides aufhob, erbebte die Erde, und die Burg war verschwunden. Peter befand sich in einem dichten Wald; er ging weiter, und bald erreichte er eine Stadt. Der König derselben war vom Feind belagert und versprach dem, welcher die Stadt retten werde, seine Tochter.

Peter ging sogleich zum König und erhielt die Erlaubnis, am Kampf teilzunehmen. Er stellte sich an die Spitze des Heeres, und alles fiel, was er mit seiner Lanze berührte. Wenn aber einer von den Seinigen gefallen war, so eilte er hin und hielt ihm die goldene Schale an die Lippen, und augenblicklich stand der Tote wieder auf.

So trugen sie den Sieg über ihre Feinde davon. Peter erhielt die Königstochter zur Gemahlin und wurde König über das ganze Land.

Quelle: Theodor Vernaleken 

Samstag, 5. Oktober 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Die lustigen Weiber

Es standen einmal drei Häuser in einer Reihe, Wand an Wand nebeneinander. In dem einen wohnte ein Schneider, im andern ein Tischler und im dritten ein Schmied. Alle drei Männer waren verheiratet und ihre Frauen waren die besten Freundinnen miteinander Sie erzählten sich oft, was sie doch für dumme Männer hätten, aber nie konnten sie darüber einig werden, welche von ihnen den dümmsten Mann habe; jede einzelne war überzeugt und sagte ihrer müsse es sein.

Die drei Frauen gingen jeden Sonntag miteinander in die Kirche, da hatten sie unterwegs die beste Gelegenheit zum Schwätzen und Klatschen und nach der Kirche fanden sie sich wieder in einem Wirthshaus, welches gleich in nächster Nähe lag, und da tranken sie immer ein Seidel »Guten« miteinander. Das eine war bei ihnen so sicher als das andere. Und es war gerade zu der Zeit, da ein Seidel Branntwein drei Schillinge kostete, so daß auf jede der Frauen ein Schilling traf. Aber da schlug der Branntwein auf einmal auf und der Wirth sagte, daß das Seidel von nun an vier Schillinge koste. Das war ihnen sehr unangenehm, denn sie waren nur ihrer drei, die sich in den Preis des Getränkes theilten, und so war immer ein Schilling zu wenig, denn keine wollte herausrücken und den vierten Schilling daraufbezahlen.

Am Heimweg von der Kirche besprachen sie sich darüber und machten miteinander aus, daß diejenige, deren Mann der dümmste sei und sich den ärgsten Schabernack von seiner Frau spielen lasse, vom nächsten Sonntag an künftig nichts mehr zu bezahlen brauche und daß jede der beiden andern dann immer zwei Schillinge hergeben müsse zu ihrem Sonntags- Schnaps.

Am nächsten Tag sagte die Schneidersfrau zu ihrem Manne: »Ich habe für heute Mädchen zum Wollezupfen hieherbestellt, denn es ist ein ganzer Haufen zu verarbeiten, so daß wir uns ordentlich tummeln müssen. Es ist mir aber recht unangenehm, daß unser Kettenhund todt ist. Wenn es nun gegen Abend geht, so kommen natürlicherweise die jungen Burschen dahergelaufen und wollen ihren Jux mit den Mädchen treiben, so daß wieder gar nichts geschieht. Hätten wir nur einen recht bissigen Hund, der sollte uns die Kerls schon vom Leibe halten.« »Ja,« sagte der Mann, »das wäre freilich recht gut gewesen.« »Höre, Männchen!« fuhr die Frau fort, »du könntest gewiß selbst den Kettenhund machen und die Burschen von dem Hause verscheuchen.« Aber das glaubte er denn doch nicht, daß er könnte, er wolle ihr sonst alles andere gerne zu Gefallen thun. »O, du wirst schon sehen, daß es ganz gut geht,« sagte die Frau, und gegen Abend hüllte sie ihn in einen wolligen Pelz ein, zog ihm eine dunkle Wollmütze über den Kopf und hängte ihn mit der Hundskette unten bei der Hundehütte an. Da stand er nun und knurrte und bellte jeden an, der sich in der Nähe hören ließ. Und das thaten meistens die Nachbarsfrauen, die ihren Spaß mit ihm hatten.

Am andern Tag war der Tischler außer Haus arbeiten gegangen und kam ganz vergnügt zu seiner Frau heim – da schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Um des Himmels willen! – aber Mann, wie siehst du denn aus? – Männchen, du bist ja krank!« Davon wußte er selbst aber nicht das geringste; höchstens schien es ihm, daß er recht hungrig sei und nothwendig etwas zum Essen brauche. Darum setzte er sich an den Tisch und begann sogleich zu essen, aber seine Frau, welche ihm gegenüber mit gefalteten Händen saß, schüttelte das Haupt und schaute ihn ganz bekümmert an. »Männchen, es wird immer schlimmer mit dir!« sagte sie, »nun bist du schon ganz bleich; man sieht es dir ganz deutlich an, daß eine schwere Krankheit in dir stecken müsse.« Jetzt wurde er selbst schon ängstlich, es war ihm am Ende doch nicht ganz gut. »Es ist wirklich schon die höchste Zeit, daß du dich ins Bett legst,« sagte die Frau und brachte ihn dazu, daß er sich niederlegte. Dann deckte sie alle Decken auf ihn, die sie nur im ganzen Hause finden konnte, und gab ihm Fliederthee und Brechwasser ein und er fühlte sich immer elender und kränker. »Du wirst diese Krankheit nicht mehr überstehen können,« sagte die Frau, »ich fürchte immer, daß du vor mir stirbst.« – »Glaubst du wirklich?« fragte der Tischler. »O ja, das kann auch leicht sein, denn ich fühle mich schon schrecklich elend.« Bald darauf sagte sie: »Nun muß ich von dir scheiden. Der Tod ist schon da. Und jetzt muß ich dir die Augen zudrücken,« und das that sie auch. Der Tischler, der ja alles glaubte, was seine Frau sagte, glaubte auch das, daß er nun todt war. Und er blieb ruhig liegen und ließ alles mit sich machen, was seine Frau nur wollte.

Sie holte dann ihre Nachbarinnen herüber und sie halfen ihr ihn in den Sarg zu legen, – es war einer, den er selbst gemacht, – aber die Frau hatte Löcher hineingebohrt, damit er doch Luft schöpfen konnte; – sie richtete ihm sein Lager darin recht weich und gut, legte eine Decke auf ihn und faltete ihm die Hände über die Brust, aber statt einer Blume oder einem Gebetbuch gab sie ihm eine Seidelflasche mit Branntwein in die Hand. Als er kurze Zeit so dagelegen, machte er einmal einen Schluck aus der Flasche, dann noch einen und wieder einen, und es schien ihm recht gut zu thun, denn er schlief darauf ein und träumte, daß er schon im Himmel sei.

Inzwischen hatte man es im ganzen Orte erfahren, daß der Tischler gestorben sei und andern Tags begraben werden sollte. – Was that aber unterdes die Frau des Schmieds? – Sie ging hinein zu ihrem Mann und zog ihm, während er da lag und einen Rausch ausschlief, das Hemd herunter und schmierte ihn vom Scheitel bis zur Zehe pechschwarz an und ließ ihn lang in den Tag hineinschlafen, bis die Leute, die dem Tischler das Geleit geben wollten, sich schon alle versammelt hatten und ihn im Sarge bereits zur Kirche trugen. Da kam die Schmiedefrau zu ihrem Manne hereingestürzt und rief: »Aber Mann, liegst du denn noch da? du verschläfst dich ja und weißt doch, daß du mit zur Leiche gehen mußt.« Der Schmied fuhr ganz verwirrt auf, denn er wußte gar nichts von einer Leiche. »Unser Nachbar Tischler,« sagte die Frau, »ist es ja, der heute begraben wird und der Leichenzug ist schon am halben Weg zur Kirche.« – »Nun ja,« sagte der Schmied, »so tummle dich halt und hilf mir meine schwarzen Kleider anziehen!« – »Papperlapapp!« sagte die Frau, »die hast du ja schon an, schau‘ nur, daß du endlich weiter kommst!« Ja da schaute sich der Schmied an und bemerkte, daß er bedeutend schwärzer sei, als er sonst zu sein pflegte; dann packte er schnell seinen Hut und lief zur Thüre hinaus dem Leichenzug nach, der schon ganz nahe bei der Kirche war. Der Schmied wollte als ein guter Nachbar natürlicherweise mit dabei sein und den Sarg tragen helfen, darum lief er dem Zuge nach und rief so laut er konnte: »He da! wartet ein wenig und laßt mich auch tragen helfen!« Die Leute im Zug blickten sich um und sahen die schwarze Gestalt dahergelaufen kommen und glaubten, es sei der Teufel in eigener Person, welcher den Tischler davontragen wolle. Da warfen sie den Sarg weg und machten sich schleunigst auf die Beine. Mit diesem »Plumps« sprang aber der Deckel vom Sarg und der Tischler erwachte und schaute heraus. Er erinnerte sich an alles wieder und wußte, daß er todt sei und begraben werden sollte. Er erkannte den Schmied und sagte mit schwacher Stimme: »Lieber Nachbar! wenn ich nicht schon gestorben wäre, müßte ich mich jetzt zu Tode lachen, so wie du zu meiner Leiche kommst!«

Von dieser Zeit an brauchte die Tischlersfrau am Sonntag nichts mehr für das Seidel zu bezahlen, denn das mußten alle zugestehen, daß sie ihren Mann am ärgsten zum Narren gehalten hatte.

Quelle: Dänemark: Svend Grundtvig: Dänische Volksmärchen 

Samstag, 28. September 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Der verzauberte Ring

Es war einmal ein armer Holzfäller, der lebte mit seiner Frau und seinen drei Töchtern am Rande eines dichten, dunklen Waldes. Die Familie war arm, doch sie waren zufrieden, solange sie sich ihre kargen Mahlzeiten teilen konnten. Doch eines harten Winters schwand ihr Glück, als eine schwere Krankheit die Mutter hinwegraffte. Die Töchter und der Vater trauerten sehr, doch die Arbeit im Wald musste weitergehen.

Eines Tages, als der Holzfäller tiefer in den Wald ging, als er es je gewagt hatte, stieß er auf einen alten, verfallenen Turm, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Die schweren Eisentore waren von Efeu umwachsen und knarrten, als der Wind durch die Öffnungen wehte. Neugierig trat der Holzfäller näher und sah, dass in dem Turm eine schwere eiserne Truhe stand, die so verrostet war, dass man glauben könnte, sie sei seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet worden.

Der Holzfäller zögerte. Doch als er die Truhe öffnete, fand er darin einen kleinen Beutel, der mit Goldmünzen gefüllt war, und ein kleines Stück Pergament, auf dem stand: „Wer mit reinem Herzen dies Gold nimmt, dem sei es gegönnt. Doch wer es aus Gier nimmt, den wird das Unglück heimsuchen.“

Der Holzfäller dachte an seine Töchter und beschloss, das Gold mitzunehmen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Er kehrte nach Hause zurück, erzählte seinen Töchtern nichts von der Warnung und begann, das Gold sorgsam auszugeben. Das Leben der Familie wurde leichter, doch mit dem Gold kamen auch Schatten über das Haus. Der Holzfäller wurde verbittert und misstrauisch, und die einst so fröhlichen Töchter stritten sich nun oft.

Eines Abends, als ein Sturm über das Land zog, hörten die drei Töchter ein leises Klopfen an der Tür. Als sie öffneten, stand ein altes Weib davor, in Lumpen gehüllt und mit einem langen, krummen Stock in der Hand. „Habt Mitleid mit einer alten Frau,“ sprach sie mit zitternder Stimme, „und gebt mir etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf für die Nacht.“

Die älteste Tochter, die einst gutherzig und liebevoll gewesen war, schüttelte den Kopf. „Wir haben selbst kaum genug für uns,“ sagte sie kalt und wollte die Tür schließen. Doch die jüngste Tochter, die noch immer ein reines Herz hatte, nahm die Hand der alten Frau und führte sie ins Haus.

Am nächsten Morgen, als der Sturm sich gelegt hatte, war die alte Frau verschwunden, doch auf dem Tisch lag ein kleiner goldener Ring.

Verwundert hob die jüngste Tochter den Ring auf und betrachtete ihn genau. Er schien alt zu sein, doch er funkelte im Morgenlicht, als wäre er aus reinem Gold geschmiedet. Sie steckte ihn sich an den Finger, und im selben Augenblick wurde das Haus von einem warmen Licht erfüllt. Die beiden älteren Schwestern eilten herbei und sahen den Glanz, der von dem Ring ausging. Doch statt sich zu freuen, wurden sie von Neid erfüllt.

„Gib uns den Ring,“ forderte die älteste Schwester mit harter Stimme. „Er gehört uns allen.“ Doch die jüngste Tochter spürte, dass der Ring etwas Besonderes war, und schüttelte den Kopf. „Der Ring wurde mir überlassen, und ich werde ihn nicht hergeben.“

In der Nacht, während die jüngste Tochter schlief, schlichen sich die beiden älteren Schwestern in ihr Zimmer und stahlen ihr den Ring. Kaum hatten sie ihn jedoch berührt, da verwandelte sich der Ring in eine kalte Eisenkette, die sich um ihre Finger wand und sie festhielt. Ein tiefer Donner hallte durch das Haus, und die beiden Schwestern schrien vor Angst, doch die Kette ließ sie nicht los.

Da trat die jüngste Tochter hinzu, geweckt vom Lärm, und sah, was geschehen war. Mit einem reinen Herzen und voller Mitgefühl sprach sie leise: „Ich vergebe euch. Lasst uns den Ring zurückgeben, und vielleicht wird die alte Frau uns vergeben.“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, löste sich die Eisenkette und der Ring fiel zu Boden. Erneut strahlte das warme Licht durch das Haus, und der Ring verwandelte sich in eine kleine goldene Blume. Die Blume öffnete ihre Blütenblätter, und aus ihr erhob sich ein feiner Nebel, der sich vor den Schwestern zu der Gestalt der alten Frau verdichtete. Doch die alte Frau war nun jung und schön, mit einem Antlitz so rein wie der Morgentau.

„Ihr habt die Prüfung bestanden,“ sprach die Frau mit sanfter Stimme. „Das Gold aus dem Turm war ein Fluch, der auf eurer Gier und eurer Uneinigkeit lastete. Doch durch die Güte und das Verzeihen der jüngsten Tochter ist der Fluch gebrochen. Nun soll euer Haus wieder in Frieden leben.“

Mit diesen Worten verschwand die Frau, und der Ring blieb als goldene Blume zurück, die niemals welken würde. Der Vater und seine Töchter lebten fortan ohne Streit und Missgunst. Sie waren zwar nicht reich, aber das Glück kehrte in ihr Haus zurück, und sie lebten in Frieden bis an ihr Lebensende.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Quelle: Unbekannt

Samstag, 21. September 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Die drei Königstöchter

Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter, und einen Sohn, die er durch einen Weisen erziehen ließ; denn ihre Mutter war frühe gestorben, und er hatte zu viele Sorgen für sein Reich, als dass er viel Zeit auf die Erziehung seiner Kinder hätte verwenden können. Seit dem Tode seiner Gemahlin war der König aber traurig, und konnte durch nichts erheitert werden. Und dem ganzen Lande lag diese Traurigkeit an; denn man fürchtete, der König möge sich nach und nach zu Tode grämen. Da kamen die drei Königstöchter zu dem Weisen, und fragten ihn, was sie tun sollten, dass ihr Vater wieder Freude zum Leben bekäme; denn sie wussten, dass der Weise in Indien die geheimen Kräfte der Natur studiert, und dass er mehr, denn menschliche Einsicht und Macht hatte.

»Eure Mutter wird euch das sagen!« antwortete ihnen der Weise.

»Unsere Mutter ist ja tot, wie kann uns die raten?« fragten die Mädchen.

»Geht hinaus,« sagte der Weise, »an dem Grabe Eurer Mutter werdet ihr’s erfahren.«

Da gingen sie hinaus an das Grab ihrer Mutter, und knieten sich nieder, und beteten kindlich fromm, und setzten sich um die Urne auf dem Grab, und lehnten sich daran und schlummerten ruhig ein. Da umgauckelte sie alle ein wunderlieblicher Traum. Es war ihnen, als schauten sie auf zum Himmel in das weiße lämmerartige Gewölke. Das zerteilte sich aber plötzlich, und Harfenton und Flötenlaut umschwebte ihr Ohr; der blaue Äther tat sich auf, buntfarbiger Lichtglanz strahlte heraus, und fromme Kindlein mit goldglänzenden Flügeln stiegen auf Wolkenstufen herab, und lagerten sich um sie her, und sangen wunderbare Lieder. Jetzt brach ein rosiger Schein hervor, und auf einer lichten duftigen Wolke schwebte ihre verstorbene Mutter herab. Um den Leib trug sie einen seidenen Gürtel mit diamantenen Sternen, und um ihr Haupt hing ein Kranz von strahlenden Blumen. Sie nahm ihre lieben Töchter alle in den Arm, und drückte sie an ihr Herz. Da fragten sie: »Wie kann der Vater wieder froh werden? wie machen wir’s, dass er seine Traurigkeit verliert?« Und sie antwortete ihnen: »den Stein Opal müsst ihr ihm finden, dann wird seine Heiterkeit wiederkehren.«

Da sprachen die Königstöchter: »Wo finden wir aber den Stein Opal?« Und ihre Mutter griff an ihren strahlenden Blumenkranz, und gab jeder eine Lilie, und sprach: »diese sei eure Führerin; wenn sie ihren Glanz verliert, dann seid ihr auf unrechtem Wege. Mehr darf ich euch nicht sagen.«

Die Musik, die bisher nur leise getönt hatte, als käme sie aus weiter Ferne, fing wieder von neuem an; die frommen Engelskindlein stiegen auf und nieder auf den lichten Wolkenstufen; um die Mutter sammelte sich eine schöne duftige Wolke, und langsam ward sie aufgehoben. Die Musik tönte immer ferner, immer leiser, bis sich der Äther wieder mit blau schloss, und die Wolkenlämmer wieder am Himmel hinzogen, wie vorher.

Es war schon etwas dämmerig, als die drei Mädchen erwachten. Jedes sahe sich um, wo es wäre, jedes fragte das andere; jedes erzählte den gehabten Traum, und jedes hatte denselben Traum gehabt. Sie waren verwundert und wollten nach Hause gehen. Einmahl noch knieten sie nieder vor dem Grab ihrer Mutter, und beteten kindlich fromm. Wie sie aber das Wörtlein »Amen« sagten, hörten sie wieder einige Töne der Musik, und in dem Augenblicke sahen sie alle zumal ihre strahlenden Blumen vor dem Grabe liegen.

Da nahm jedes eine der Lilien, und sie gingen hin zu dem Weisen, und sprachen: »Wir haben alle einen Traum gehabt auf dem Grabe der Mutter. Den Stein Opal müssen wir finden, dann verliert unser Vater die Traurigkeit. Sprich, wo finden wir diesen Wunderstein?«

Da sprach der Weise zu den Königstöchtern: »Ihr müsst ziehen in das Reich India. Dort verwahrt ihn eine Fee, genannt Tellus. Ihr müsst aber rein sein von Lüge und Eigennutz, und viel Wunder müsst ihr ohne Schrecken vernehmen, sonst erringt ihr nie den gesuchten Stein. Folget diesem Vogel!« sprach er, und fasste einen Stein von der Erde, und warf ihn in die Lüfte; und der Stein ward ein großer Vogel, der langsam voraus flog, und ihm folgten die Königstöchter.

Und sie zogen durch viele Länder und Reiche der Erde; der große Vogel zog immer voraus, und kamen sie an einen Kreuzweg, oder an einen Ort, wo der Weg sich schied, so folgten sie den Strahlen, die ihre Lilien immer nach der richtigen Strasse hin warfen. Und wo sie Abends herbergeten, da brachte ihnen der Vogel immer ihre Speisen, und was sie nur brauchten.

So führte sie der Vogel immer fort, bis sie kamen in das Reich India; und sie durchzogen das Reich, und kamen an die äußerste Grenze desselben. Da verließ sie der Vogel am Ufer des Meeres, und kam nimmer zurück. Und sie saßen einen ganzen Tag an dem Rande des Meeres, und sahen vor sich die Sonne aufgehen, und sahen sie untergehen im Abendlande; und klagten unter einander, und berieten sich, was sie tun wollten. Wie aber die Sonne unter war, und der Mond herauf kam, erblickten sie nahe in den Fluten ihren Vogel. Er wiegte sich sanft auf den Wellen des Meeres, und schien sie einzuladen, zu ihm zu kommen.

Und sie warfen sich in das Meer, und schwammen hin zu dem Vogel. Da rauschte das Wasser auf, und aus den Wellen erhob sich schwimmend ein Weib, nicht wie die Frauen der Erde, voll wundervoller Schönheit. Sie sprach zu ihnen: »Was sucht ihr?« »Wir suchen den Stein Opal,« antworteten die Königstöchter. Da sprach das Weib: »Noch steht euch frei zurück zu kehren. Prüfet euch; fühlt ihr Mut in euch, das zu sehen, zu hören, was nur Geister bisher vernommen haben? Ist euer Streben rein? Noch könnt ihr zurückkehren.«

»Wir haben Mut, die Wunder zu sehen, die der Erde Schoß verbirgt, und rein ist unser Streben, den Stein Opal zu finden. Führe uns.« So sprachen die drei Königstöchter, und fassten einander bei der Hand, und tauchten mit ihr unter. Aber sie bedurften der Luft nicht mehr zum Leben, denn sie wandelten an der Hand einer Fee. Und sie kamen auf den Grund des Wassers; über ihnen brausten die Wellen, und unter ihnen dröhnte der Boden.

Durch eine kühle Grotte führte der Weg. Aber die Grotte war von dem klarsten Kristall, und farbige Strahlen spiegelten sich in den vieleckigen Steinen. Und sie kamen in einen dunkeln Saal, an dessen Decke sich Sterne drehten, und der Mond wandelte daran auf und nieder. Und sie schauten hinauf. Da schlug ihr Herz ruhiger. Aber die Sterne kreißten und drehten sich in immer schnellerem Tanze, und verschlungen sich zu mancherlei Gestalten, die sie wohl an ihre frühe Kindheit erinnerten.

Da scholl donnernd eine Stimme durch den Saal: »Was sucht ihr Töchter der Oberwelt in dem Schoße der Erde?«

Aber die Königstöchter waren erschrocken, und antworteten mit verzagtem Mute: »Wir suchen den Wunderstein Opal.«

Abermahls erscholl die donnernde Stimme, und sprach: »Ihr seid eingetreten in das Reich der Königin Tellus, die da Königin ist über die Geister der Erde; ihr seid kommen, zu hohlen ihr schönstes Gut. Ohne Beschwerde erlangt ihr es, wenn es für euch selbst ist.«

Da glaubten sie durch List gleich den Stein zu erhalten, und sprachen: »Ja er ist für uns selbst.« Und sie blickten nach ihren Blumen; ihr Glanz war erloschen; die Sterne versanken; der Mond war verschwunden, und durch den dunkeln Saal donnerte zum dritten Male die Stimme: »Ihr habt die Wahrheit verhehlt, und habt eine Lüge gesagt. So versinket denn in dem Brunnen der Reue!« Und der Boden sank unter ihnen, und sie lagen in dem Brunnen der Reue.

Aber der uralte König geriet noch in größere Traurigkeit, als seine Töchter fort waren, und schickte viele Kundschafter aus gegen Morgen und gegen Mittag und gegen Abend und gegen Mitternacht; aber keiner war, der ihm Kunde gebracht hätte von seinen drei Töchtern. Da wollte sein Sohn ausziehen, seine Schwestern zu suchen; der König aber gab’s nicht zu, denn er fürchtete, ihn auch zu verlieren. Endlich zehrte ihn der Gram auf, und er starb in seinem hohen Alter.

Da der junge Königssohn aber die Leiche seines Vaters beerdigt hatte neben dem Grabe seiner Mutter, ließ er seine Räte und alle Hohe des Reiches zusammen kommen, nahm Abschied von ihnen, und zog aus, seine Schwestern zu suchen, nachdem er den Räten das Wohl des Reichs empfohlen hatte. Und zog weit umher in fremden Landen, und kam endlich in das Reich India, und an den Strand des Meeres. Traurig setzte er sich nieder und blieb da den ganzen Tag, und sah den Mond herauf kommen aus den Wellen. Und fern auf den Wellen hört er’s rauschen, und blickte auf, und sah sich’s bewegen im Mondenscheine. Er horchte auf, und deutlich hört er’s singen, wie Geisterton:

»Tauch unter,

Die Wunder

Der Erde zu sehen.

Kannst wohl auch erreichen

Den Stein, ohne Gleichen,

Den Stein Opal.

Tauch unter,

Die Wunder

Der Erde zu sehen.

Drei Schwestern voll Treue

Im Brunnen der Reue

Gefangen sind.

Tauch unter,

Die Wunder

Der Erde zu sehen.

Die Güter der Erden

Bereitet werden

In Tellus Reich.«

Jetzt erblickte er den Vogel, der seine Schwestern hierher begleitet hatte; und da er sah, dass der Vogel ihm winkte, warf er sein Kleid von sich, und schwamm hinaus. Da rauschte das Wasser auf, die Fee erschien, und fragte ihn: »Was suchst du?« »Drei Schwestern will ich erretten aus dem Brunnen der Reue!« antwortete der Jüngling. Darauf sprach die Fee: »Noch steht dir frei zurückzukehren. Fühlst du Mut in dir, das zu vernehmen, was kaum der menschliche Sinn ertragen kann? Ist dein Streben rein? willst du sonst nichts?«

»Mein Streben ist rein!« antwortete der Jüngling, »aber auch den Stein ohne Gleichen, den Stein Opal will ich erringen, und will schauen die Wunder der Erde.« Da fasste sie ihn bei der Hand, und nahm ihn mit sich in die Tiefe des Wassers, und führte ihn ein durch die kühle Grotte in den dunkeln Saal, wo die Sterne sich drehten und der Mond auf und nieder wandelte. Donnernd scholl eine Stimme durch den hallenden Saal, und fragte: »Was suchst du, Sohn der Oberwelt, in dem Schoße der Erde?« Und beherzt antwortete er: »Drei Schwestern will ich erretten aus dem Brunnen der Reue.«

Da hallte abermals die Stimme durch den Saal, und rief: »Wenn es nicht deine Schwestern sind, sollen sie dir gleich frei gegeben werden.« »Ich weiß es nicht,« antwortete er, »aber ich vermute, dass es meine Schwestern sind.« Und zum dritten Male hallte eine Stimme durch den Saal, und rief: »Du hast nicht verheimlicht deines Herzens Gedanken, darum sei dein Wunsch dir gewahrt!« Und vor ihm tat der Boden sich auf, und aus dem Brunnen der Reue stiegen auf seine drei Schwestern und er bewillkommte sie herzlich. Der Boden aber schloss sich wieder.

Die Fee war verschwunden gewesen; jetzt trat sie wieder zu ihm, und führte ihn ein durch eine goldene Pforte. Seine Schwestern musste er zurück lassen. Da war ein großes marmornes Gewölbe. Bei einer düstern Lampe saß ein Greis, und las in einem großen Buche; und als die Fee zu ihm trat, stand er auf, und sie sprachen miteinander; aber der Jüngling verstand nicht, was sie sprachen. Er schaute umher an den Wänden; da waren wunderbare Zeichen eingegraben; und er schaute auf zur Decke, da brannte, wie Phosphor, die Schrift: »Schicksale der Erdenbewohner.« Und er sah nach der Pforte, durch die er gekommen war; da las er die Worte: »Schaue! aber frage nicht!« Darum schwieg er, und fragte nicht nach dem Sinne der Bilder und Züge.

Endlich trat der Greis mit der Fee wieder zu ihm, und er fiel auf die Knie unwillkürlich. Und der Greis fragte: »Weißt du dich rein von Sünden, Jüngling?« »Ich bin mir keiner Sünde bewusst, o Greis!« antwortete er voll Ehrfurcht vor dem Ernste des Greisen. Da machte ihm der Greis ein Zeichen auf die Stirn, und der Fee machte er ein Zeichen in die Hand, und winkte ihnen zu gehen.

Und sie gingen aus dem marmornen Saale durch einen dunkeln Gang, und kamen an den Eingang eines alten zerfallenen Turmes. Die Fee winkte ihm stehen zu bleiben, und ging hinein. Er durfte aber durch die Pforte hinein sehen. Da saß ein Greis an einem Rade, und spann die Haare seines eigenen Bartes mit großen Schmerzen zu einem Strick, und wie er spann, wuchsen ihm die Haare immer nach. Vor sich hatte er eine Tafel aufgehangen mit wunderlichen geheimnisvollen Figuren, ähnliche Figuren waren auf den Boden gezeichnet. Als aber die Fee zu ihm trat, schaute er um mit einem zornigen Blick, und rief: »Was willst du?« Da wies sie ihm das Zeichen in ihrer Hand, und der Greis ward wie wütend, und riss sich ein Haar aus seinem Bart, und warf’s ihr zu. Sie weilte aber nicht länger, und nahm das Haar, bracht’s dem Jüngling, und knüpft‘ es an einem Stein an, und hieß ihn, sich an dem andern Ende desselben führen zu lassen, und er solle stets antworten nach seiner wahren Überzeugung, wenn er gefragt werde. Sobald er aber den Stein Opal habe, müsse er zurücke gehen, und das Haar darauf wickeln. Jetzt dürfe er fragen, was er wolle, und wenn er den Wunderstein habe, dürfe er auch tun, was er wolle. Als sie das gesagt, verschwand die Fee.

Aber der Jüngling fasste das Ende des Haares, und ging weiter, und mit jedem Schritte verlängerte sich auch das Haar. Und er kam an ein Bächlein; das strömte vorbei, und an dem Bächlein saß eine Mutter und weinte, aber alle ihre Tränen wurden Perlen, und fielen in das Bächlein, und es führte die Perlen in das Meer auf die Oberwelt, wo die Muscheln sie aufnahmen, und die Menschen darnach fischen.

Da trat der Jüngling zu ihr, und fragte sie, warum sie weine. Die Mutter zeigte ihm aber jenseits des Bächleins eine weiße Lilie, die war gewelkt auf ihrem Stängel, denn der Stängel war golden, und konnte nicht Nahrung saugen aus der Erde.

Und er ging weiter fort, und kam an eine Stelle, da wuchs eine Pflanze, nicht wie die Pflanzen dieser Erde, und doch schien sie das Muster zu sein, wonach alle Gewächse gebildet sind; und aus allen Blättlein sang eine Stimme heraus, und begrüßte ihn mit sanften Tönen, sang ihm Trost und Mut ins Herz. Da strebte er mit neuem Mute weiter, und kam an den Quecksilbersee. Drei Ströme flossen von ihm aus, und führten das Quecksilber hinauf in die Schächte der Berge.

Aber er getraute sich nicht weiter. Da rief eine Stimme ihm: »Jüngling, bist du rein von Sünden, so schreite vorwärts, und du wirst nicht untersinken.« Und er schritt vorwärts, und um ihn, dünkt es ihn, liefen die Ufer rings herum, und die Wellen des Sees gingen hin und her. Aber er schritt vorwärts, und kam jenseits glücklich an.

Und er kam an eine Pforte von Glase, die verschlossen war von innen. Da pocht‘ er an, und es rief eine Stimme: »Was willst du in der Behausung der Elemente?«

»Ich will schauen die Wunder in Tellus Reich; öffnet mir die Behausung der Elemente.« Da tat sich das Tor auf, und er trat ein in die Behausung der Elemente. Da stand eine irdene Säule in der Glut der Feuerflammen; und ein Luftstrom brach aus zur Seite, und drang hinaus auf die Oberwelt, und ein Wasserstrom drang aus zur andern Seite, und verteilte sich in den Schoß der Berge; und es dünkte ihn, als sei die Behausung der Elemente ein Vorbild der Berge auf Erden, die Feuer ausspeien.

Da er aber weiter ging, kam er an eine Pforte, die war zusammengesetzt aus allen Metallen. Und als er anpochte, rief eine Stimme: »Was willst du in der Behausung der Metalle.« Und er antwortete wieder: »Ich will schauen die Wunder der Königin Tellus; öffnet mir die Behausung der Metalle.«

Da tat sich das Tor auf, und er kam in einen runden, gewölbten Saal, wo aus einem Quell die Metalle alle hervor wuchsen, und sich ausdehnten nach allen Enden, und sich drängten in die leeren Adern der Schachte, in die Poren der Steine und blieben da liegen, hart, von mancherlei Farbe und mancherlei Güte.

Aber der Jüngling ging weiter fort, und schritt über die wachsenden Metalle hin, und kam an eine diamantene Pforte. Da er nun anklopfte an die Pforte, rief eine Stimme ihm, und sprach: »Warum wagst du dich an die Wohnung der Königin Tellus?« Da antwortete er: »Ich will hohlen den Stein Opal bei der Königin Tellus.« Und zum zweiten Male rief eine Stimme: »Wenn du den Stein Opal willst für andere, so soll er dir werden; willst du ihn für dich, so kehre um, Jüngling, denn dein Streben ist vergeblich.«

Wie er aber sich umkehrte, und zurück gehen wollte, da rief die Stimme zum dritten Male: »Gehe ein! denn du bist wahr, und meidest die Lüge.« Und die diamantenen Torflügel taten sich auf, und der Jüngling ging ein. Aber er stürzte nieder, und barg seine Augen, denn sie konnten nicht ertragen den Glanz, der auf sie eindrang. Eine Stimme rief ihm: »Stehe auf!« und er richtete sich auf, und konnte hin sehen. Da saß auf einem Thron aus Diamant die Königin, und ihre Dienerinnen um sie auf chrysolitenen Sitzen. Da standen Tische aus Onyx-Steinen und darauf waren Gefäße aus Rubin und Saphir; der Boden war belegt mit Türkis und Achat; die Säulen und Pfeiler waren aus Jaspis und Porphyr; die Decke war aus Lasur-Steinen, und Sterne darin aus Diamanten; Wandleuchter waren da, und in der Mitte ein Kronleuchter aus Karfunkel. Aber vor dem Throne der Königin Tellus war ein Becken, darin floss ein Spiritus, der brannte in allerlei Farben. Und die Königin schöpfte von dem Spiritus aus mit einem diamantenen Löffel, und Dienerinnen gingen aus und ein, und trugen saphirene Urnen; und die Königin schöpfte ihnen von dem Spiritus in die Urnen; und sie gingen aus und träufelten ihn in die Schächte und in die Wasser, dass er Edelstein würde, und die Menschen ihn fänden, und auch von den Schätzen der Königin Tellus hätten.

Als aber der Jüngling umher geschaut, und sich erholt hatte von seinem Staunen, trat die Königin zu ihm, und fragte ihn: »Was begehrst du, Jüngling?«

Da antwortete er: »Ich komme den Stein Opal zu holen.«

Die Königin sprach: »Meiner Güter höchstes ist der Stein Opal. Wärest du es nicht, den ich aus Tausenden erwählt habe, hättest du nicht der Prüfung deiner schuldlosen Wahrheit so ganz bestanden, nimmer hättest du es wagen dürfen, meinem Reiche zu nahen. – Wisse aber: der Weise, der dich erzog, ist mein Vater. Darum zog ich dich allen Erdenbewohnern vor.«

Als sie das gesagt, griff sie mit der Hand in den brennenden Spiritus, und brachte heraus den Stein ohne Gleichen, den Stein Opal. Sie reichte ihn dem Jüngling, und sprach: »Nimm ihn hin; mit ihm gebe ich dir Macht, in meinem Reiche zu tun, was du für recht hältst; mit ihm gebe ich mein unterirdisches Reich auf. Auf der Oberwelt werden wir uns wieder sehen.« Und damit war sie verschwunden, und der Spiritus war verloschen, die Edelsteine leuchteten allein noch durch die Dunkelheit der unterirdischen Nacht. Er sah der Ausgänge viele, und wusste nicht mehr das Tor, durch das er eingegangen war. Da hatte er zum Glücke noch das Ende des Haares. Und er fing an mit ihm zu umwinden den Stein Opal, und es führte ihn hinaus. Da krachte es plötzlich hinter ihm, und die Behausung der Königin Tellus war zusammen gestürzt.

Er wand immer auf an dem Haare, und es führte ihn wieder durch die Behausung der Metalle; und als er vorüber war, da donnerte es hinter ihm, und der Saal stürzte zusammen, und die Quelle der Metalle war verschüttet. Darum wachsen die Metalle im Schachte der Berge jetzt nicht mehr.

Als er aber ging durch die Behausung der Elemente, sprach er: »Ihr unterirdischen Mächte, du Königin Tellus, höret mich! die Elemente sollen fortan bleiben im Schoße der Erde!« Und die Elemente blieben, und strömen seitdem noch immer aus auf die Oberwelt.

Und er schritt wieder über den Quecksilbersee, und kam an die seltsame Pflanze, und brach sich einen Zweig derselben, und ging weiter. Da welkte die Pflanze, aber sein Zweig blieb frisch.

Da kam er wieder an das Bächlein, wo die Mutter saß, und Perlen weinte, wo jenseits die gewelkte Lilie stand, und sprach zu ihr: »Sprich, was bedeutet die Lilie auf dem goldenen Stengel?« Da antwortete die Mutter: »Die Lilie auf dem goldenen Stiele bedeutet meine Tochter Tellus, die ich unglücklich gemacht habe.«

»Wie hast du denn deine Tochter unglücklich gemacht?« fragte der Jüngling. Da antwortete die Mutter: »Sie war glücklich auf der Oberwelt, und freute sich über Blumen und Bäume und Berge und Täler, und wusste nichts von irdischem Gut. Da kam eines Abends ein Mann zu uns, und ließ sie wählen zwischen einer Lilie, und dem Stein Opal. An der Lilie, sprach er, hinge das Reich der Oberwelt, und die Freude an Wald und Flur. Auch hänge von ihr ab das Reich der Gemüter und der Freundschaft und Liebe; mit dem Stein Opal stehe aber in Verbindung das Reich der Elemente und der Erdengüter, der Metalle und Perlen und Edelsteine. Da griff meine Tochter nach der Lilie; aber ich rief ihr zu, und winkte ihr auf den Stein Opal, denn mein Herz hing an den Gütern dieser Erde; und sie nahm den Stein, gehorsam dem Winke der Mutter. Sie bekam zwar das Reich der Erdengüter, aber ihr Herz welkte unter den toten Steinen, und trauerte. Da erschien mir der ehrwürdige Greis, den du gesehen hast im Saale, wo die Schicksale der Erdenbewohner eingegraben stehen, und führte mich hierher. Und hier muss ich nun büßen, und Perlentränen weinen, bis ein Anderer den Stein Opal besitzt, und ihn nimmt auf die Oberwelt.«

»Komm Mutter der Perlen,« sagte der Jüngling, »ich habe den Stein Opal, und nehme ihn mit auf die Oberwelt.« Die Mutter der Perlen folgte ihm, und sie kamen wieder an den Turm, darin der Alte saß, und spann. Er trat hinein, und fragte ihn: »Was spinnest du die Haare deines eigenen Bartes mit großen Schmerzen zu Stricken?«

Da antwortete der Greis: »Darum, dass ich an dem Stricke mich niederlasse ins Meer der vergangenen Zeit, und die verlorenen Stunden wieder hole. Darum geize ich mit den Haaren und mit der gegenwärtigen Zeit.« Und als er das gesagt, warf er ihm einen zornigen Blick zu.

Und die Fee stand wieder bei ihm. Aber der Jüngling fragte: »Wo ist das Meer der vergangenen Zeit?« und fasste den Alten mit seinem Rade, und trug ihn mit sich. Da führte ihn die Fee hinaus, und zeigte ihm einen unergründlichen Abgrund. Da warf der Jüngling den Greis hinab, und sprach: »Gehe hinab in die Vergangenheit! Du warst, und die Zeit war. Warum hast du sie dir vorüber gehen lassen? Warum bist du nicht mit ihr gegangen?«

Und die Fee nahm den Jüngling bei der Hand, und stürzte sich mit ihm hinab in die Fluten des Meeres der Vergangenheit, und sie schwammen an das andere Ufer; da saß seine ältere Schwester, die erste der Königstöchter, und schaute hinab auf die Tiefe des Meeres, auf die Taten der Menschen, deren Bild sich dar auf spiegelte. Und vor sich hatte sie eine Tafel, und grub die Taten darauf mit einem diamantenen Griffel.

Der Jüngling umarmte aber seine älteste Schwester, und nannte sie Wara, und nahm sie mit sich.

Die Fee führte sie weiter, und sie traten ein in einen Garten, schöner, denn die Gärten der Sterblichen. Ein Regenbogen war gezogen um die Decke des Himmels, und alle Farben lachten nieder auf den Garten, schönere Blumen blühten darin, und hauchten Wohlgerüche, süßer, als die Düfte der irdischen Blumen. Aber in der Mitte des Gartens stand eine Laube von Rosen und Jasmin, und drinnen saß die zweite Schwester des Jünglings, die zweite Königstochter, auf einem Sitze von Rosen und Lilien, und flocht Kränze aus den Blumen, die nie welkten.

Aber der Königssohn winkte ihr, und nannte sie Nossa, und sie nahm zwei ihrer nimmer welkenden Kränze, und folgte ihm. Und die Fee führte sie weg, und sie kamen an eine Stelle, da glühte ein mächtiges Feuer in ungeheurer Lohe, und mehr denn tausend Flammen züngelten rot und weiß und blau daraus in die Höhe, wie feurige Wellen. Aber in der Mitte des Feuermeeres saß in himmlischer Klarheit, mit stiller Ruhe und sanfter Gelassenheit die dritte Königstochter, die dritte Schwester des Jünglings, und winkte ihnen.

Da schritten sie über die Flammenglut ohne Schaden zu ihrer Schwester, und der Jüngling nannte sie Gefione, und nahm sie mit sich, und sie schritten jenseits aus dem Feuer. Und die Fee stand wieder bei ihnen. Da fragte der Jüngling: »Wohin führest du uns jetzt?« Da winkte ihm die Fee, und sie gingen ihr nach, und kamen an einen Brunnen. Da fragten die drei Königstöchter: »Wie heißt der Brunnen?« »Er heißt Brunnen des Lebens,« antwortete die Fee, und schöpfte aus dem Brunnen mit kristallener Schale, und reichte ihnen zu trinken; und alle tranken davon, und sanken in tiefen Schlummer.

Der Königssohn hatte einen wunderbaren Traum. Ihm war, er sehe die Königin Tellus, wie er sie gesehen hatte in ihrem Reiche. Aber in ihrer Krone trug sie den Stein Opal. Da däucht es ihn, der Stein Opal falle heraus, und er ging hin, und hob ihn auf. Da welkte plötzlich die Königin Tellus zusammen, und sank nieder, und die Erde tat sich auf, und sie sank unter, und Blumen und Rasen wuchsen drüber her. Aber aus dem Rasen erhob plötzlich eine Lilie, weißer, als der Schnee, ihr reines Haupt, und blühte in ungewöhnlicher Fülle.

Aus diesem Traume erwachte der Jüngling. Aber wie erstaunte er? Er saß auf dem Throne seines Vaters, bei ihm saßen seine drei Schwestern, Wara, Nossa und Gefione, und vor ihn trat sein Lehrer, der alte Weise, und reichte ihm den Stein Opal, aus welchem die Lilie hervorwuchs, die er im Traume gesehen hatte.

Als aber der junge König den Stein und die köstliche Lilie berührte, da schwoll die Blume auf, und ward größer mit jedem Augenblick, es öffnete sich ihr Kelch, und aus ihm trat hervor in wundervoller Schönheit Tellus, die Königin.

»Sie sei deine Gemahlin!« sagte der Weise, »Sie ist meine Tochter, sei du mein Sohn.« Und Nossa kam und schwang ihre Blumenkränze ihnen um das Haupt, einen dem Könige, ihrem Bruder, und den andern der Königin, ihrer neuen Schwester. Und das Volk hörte von der Wiederkunft seines Königs und von seiner Vermählung, und kam nun mit Jauchzen und Jubel, ihnen zu huldigen.

Aber die Wunderlilie, die sich wieder geschlossen hatte, und den Stein Opal hob der König wohl auf, und gründete mit seiner Gemahlin ein Reich des Segens und des Glückes. Er brachte die Güter und Schätze der Erde über seine Untertanen; sie brachte das Glück des Himmels und seine Güter auf sie hernieder. Aber die drei Königstöchter wandelten umher in dem Lande, und verteilten die köstlichen Gaben unter die Menschen, und erschienen überall als gute, wohltätige Engel.

Der Weise aber hatte seine Frau, die Mutter der Perlen, gesucht, und sie pflanzten miteinander den Zweig der seltsamen Pflanze, den der Jüngling mitgebracht hatte; und der Zweig wuchs auf, als ein Palmbaum an ihrem Schlosse, und brachte Frieden über das glückliche Land, und seine Blätter sangen Zufriedenheit in die Gemüter der Vorübergehenden.

Es ist aber untergegangen dieses selige Reich. Wie lang es gedauert – – niemand weiß es. –

Der Stein Opal ging wieder verloren. Aber Mächtige dieser Erde sollen ihn manchmal wieder gefunden haben. –

Die Lilie ist verloren gegangen. – Vielleicht, dass sie von einer stillen, tief ahnenden Seele wieder gefunden wird! Es ist aber nicht zu hoffen, dass je wieder die Lilie so schön verbunden werde mit dem Stein Opal, als sie es war in jenem Reiche.

Die drei Königstöchter, Wara, Nossa und Gefione aber wandeln immer noch um in dem Reiche, aber nur in wenige Hütten treten sie ein.

Quelle: Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg 1809