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Samstag, 20. Januar 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Der Engel und der Waldbruder

Einst wurde ein Eremit vom Geiste der Lästerung versucht und grübelte darüber nach, wie doch die Urteile Gottes ungerecht seien, wie die Guten in Kummer und die Schlechten in Freuden lebten. Da erschien ihm ein Engel in Menschengestalt und sprach zu ihm: »Folge mir, denn Gott schickt mich, daß du mit mir gehest und ich dir den verborgenen Sinn seiner Urteile zeige.« Und er führte ihn in das Haus eines biederen Mannes, der sie wohlwollend und gastfreundlich aufnahm und mit allem Nötigen bewirtete. Am anderen Morgen aber entwendete der Engel ihrem Gastfreunde einen Becher, welchen dieser sehr hoch schätzte. Hierüber begann der Eremit zu murren, denn er glaubte, jener sei nicht von Gott gesandt. 

Die nächste Nacht verbrachten sie im Hause eines Mannes, der ihnen ein schlechter Wirt war und der sie unfreundlich behandelte. Diesem gab der Engel den Becher, den er dem guten Gastgeber gestohlen hatte. Als der Eremit solches sah, wurde er noch betrübter und begann eine noch schlechtere Meinung von seinem Begleiter zu bekommen. 

Von dort weitergehend nächtigten sie ein drittes Mal im Hause eines guten Mannes, der sie mit großer Freude empfing und ihnen reichlich mit allem Notwendigen aufwartete. Am anderen Morgen gab er ihnen einen jungen Mann, seinen Diener, mit, daß er ihnen den Weg zeige. Diesen stürzte der Engel von einer Brücke herab und ertränkte ihn im Wasser. Als der Eremit solches sah, wurde er traurig und ärgerlich. 

In der vierten Nacht nahm sie ein trefflicher Mann aufs beste auf, brachte ihnen mit heiterer Miene reichliche Speise und ließ ihnen geeignete Lagerstätten herrichten. Aber das kleine Söhnchen des Gastwirtes, das einzige, das er hatte, begann in der Nacht zu weinen und hinderte sie am Schlafen. Da stand der Engel nächtlicherweile auf und erwürgte den Knaben. Als der Eremit solches sah, glaubte er, sein Gefährte sei der Satan selber und wollte sich von ihm trennen. 

Jetzt endlich redete der Engel und sprach: »Deshalb hat mich der Herr zu dir geschickt, daß ich dir den verborgenen Sinn seiner Urteile zeige, und damit du erfahrest, daß nichts auf der Erde ohne Grund geschieht. 

Jener wackere Mann, dem ich den Becher fortnahm, liebte ihn zu sehr, bewahrte ihn neidisch und dachte häufig an den Becher, wenn er an Gott hätte denken sollen. Deshalb habe ich ihn ihm zu seinem Heile genommen und jenem schlechten Wirte, der uns in seinem Hause übel aufnahm, gegeben, damit er seine Vergeltung noch in diesem Leben empfange, denn im Jenseits wird ihm kein Lohn mehr zuteil werden. 

Jenen Diener aber habe ich ertränkt, weil er sich vorgenommen hatte, am folgenden Tage seinen Herrn zu töten, und so habe ich unseren guten Gastgeber vor dem Tode errettet, seinen Diener aber vor einer Mordtat, damit er, ohnehin schon ein Mörder dem Vorsatze nach, um etwas weniger in der Hölle bestraft werde. 

Unser vierter Gastfreund endlich tat viel Gutes, ehe er den Sohn hatte und bewahrte alles, was er an Lebensmitteln und Kleidung erübrigte, für die Armen auf; als aber sein Knabe geboren war, zog er seine Hand von den Werken der Barmherzigkeit zurück und bestimmte alles für seinen Sohn. Ich habe ihm den Anlaß zur Habsucht genommen und gleichzeitig die Seele des unschuldigen Kindes ins Paradies gebracht.« Als der Eremit solches hörte, wurde er von jeder Versuchung befreit und begann die Urteile Gottes, deren Sinn verborgen ist, mit lauter Stimme zu preisen.

Quelle: Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen

Samstag, 13. Januar 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Das Bettelmädchen

Es lebte ein alter Burgvogt, der wünschte, daß einst sein Sohn, der junge Graf heirate, damit das Burgvogtrecht in der Verwandtschaft bleibe. Der Vater gab nun ein Mahl, an dem er sich äußerte, daß sein Sohn demnächst heiraten werde. Der Sohn erwiderte dem Vater, daß er geneigt sei zu heiraten, nur solle man ihm die Wahl überlassen und nichts dagegen einwenden, ob er nun bald ein reiches oder ein armes Mädchen nach Hause bringe, die Hauptsache sei, daß sie ihm gefalle. Daraufhin unternahm er einen großen Spaziergang und kam durch ein Dorf, wo er ein Mädchen am Brunnen waschen sah, das ihm sehr gefiel. Wieder zu Hause angelangt, ließ er die Schneiderin kommen und eine Magd, die ungefähr von derselben Größe war wie das Brunnenmädchen, und ließ für die Schöne ein Kleid anmessen. Als das Kleid fertig war, ließ er den Wagen anspannen und fuhr mit dem neuen Kleid in das Dorf vor das Haus des Mädchens, wo er ausstieg. Er fand Mutter und Tochter zu Hause. Er bat die Mutter um die Hand ihrer Tochter; er habe sie am Brunnen gesehen und wünsche sich keine andere zur Frau. Die Mutter entgegnete: "Das ist gewiß nur ein Traum oder ein Scherz von Euch, Herr, ich bin arm und kann dem Mädchen nichts geben. Wenn Eure Neigung aber eine ernste ist, so will ich nicht dagegen sein!" Da fragte er die Tochter, und diese erwiderte ihm dasselbe wie die Mutter. Da sagte der Herr zu dem Mädchen: "Ja, es ist mir ernst, nur mußt du mir versprechen, in allen Fällen gehorsam zu sein!"

Sie versprach es mit Herz und Hand, und nun packte er das schöne Kleid aus, sie zog es an, und es paßte ihr gut; dann nahm er sie mit in den Wagen, fuhr mit ihr nach Hause und hielt Hochzeit.

Das arme Mädchen hatte sich bald in die vornehmen Verhältnisse hineingefunden. Nach zwei Jahren gebar sie ein Mädchen. Als es zwei Jahre alt war, sagte der Burgvogt zu seiner Frau: "Du hast mir versprochen, immer gehorsam zu sein; das Volk beginnt zu murren, daß das erstgeborne Kind nicht ein Bub ist, drum wäre es besser, wenn wir das Kind entfernten!" Die Mutter erwiderte: "Was ich versprochen, bin ich bereit zu halten!" Sie gab dem Kleinen ihren Segen und ließ es fortnehmen; sie wußte nicht, wohin es kam, und fragte auch nicht.

Nach weitern zwei Jahren gebar sie einen Sohn. Zwei Jahre verflossen, und da trat der Graf wieder vor sie und sagte: "Das Volk murrt, daß der Kleine der Sohn eines ehemaligen Bettelmädchens ist, drum ist es besser, wenn er fortkommt!" Die Mutter hatte nichts dagegen einzuwenden und erteilte ihrem Söhnchen den Segen. Beide Kinder wurden, ohne daß die Mutter es wußte, zu Verwandten gebracht und dort standesgemäß erzogen.

Nach einigen Jahren trat der Graf wieder vor seine Frau und sagte: "Das Volk murrt gegen mich, daß ich dich geheiratet habe; wenn ich Frieden haben will, so müssen wir uns trennen. Geh du wieder in dein Elternhaus, dann werde ich eine Vornehme heiraten, und das Volk wird wieder zufrieden sein!" Die Frau wurde traurig und sagte: "Ich habe dir versprochen, in allen Teilen zu gehorchen, und werde mein Wort halten, ohne zu murren!"

Da holte ihr der Gemahl die Bauernkleider, die er aufbewahrt; sie zog ihr schönes Gewand aus und schlüpfte in das Bettelkleid. Der Graf gab ihr einiges Geld mit, und sie zog wieder nach Hause. Die Mutter suchte sie zu trösten: "Ich habe es dir gesagt, es geht so lange, dann bist du ihm verleidet!"

Nach zwei Jahren ließ sie der Graf wieder in seine Burg rufen und sagen, sie möchte das Schloß putzen und fegen helfen, denn er wolle wieder heiraten. Sie gehorchte und fegte das Schloß mit den andern Dienstboten von oben bis unten, Dem Burgvogt gingen dabei die Augen über. Dann sagte er zu ihr: "Wenn ich nun Hochzeit halte, so sollst du allein mir aufwarten!" Sie nickte stumm und ging an die Arbeit. Am Hochzeitstage saß neben dem Grafen ein blutjunges, schönes Mädchen. Er fragte seine Aufwärterin, wie ihm die Braut gefalle. Sie antwortete: "Sie gefällt mir gut, nur wünsche ich, daß sie Euch immer gefallen möge bis an Euer Ende und sie nicht einst so hart abgewiesen wird wie ich!" Da fiel ihr der Graf um den Hals und rief aus: "Ich wollte nie eine andere heiraten; die du da siehst und als meine Braut wähnst, ist unsere Tochter, die ich von dir genommen habe, und der schöne Jüngling neben ihr ist unser Sohn. Jetzt bist du wieder meine Gemahlin und lebst im Schlosse mit mir, und wir halten treu zusammen, bis der Tod uns trennen wird!"

Quelle: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz 

Samstag, 6. Januar 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Die Bernsteinfee

Ein großes Schiff verließ mit geblähten Segeln den Hafen an der Ostsee. Zum Abschied winkend, standen am Ufer die Seemannsfrauen mit ihren Kindern. Unter ihnen war ein junges, blondes Mädchen, Marie, die Tochter des Lotsen. Sie schwenkte ein Tuch in der Hand, denn ihre Abschiedsgrüße galten dem jungen Steuermann, dessen Braut sie seit einer Woche war. Guter Wind führte das Schiff bald auf die offene, weite See, bis es, immer kleiner werdend, verschwand.

Da erst kamen dem jungen Mädchen die Tränen, und es lief vom Weg ab in die Dünen, um allein zu sein. Das Abschiedsweh um ihren Bräutigam überkam sie so sehr, wie sie es vorher kaum vermutet hätte. In der einen Woche waren die beiden so recht von Herzen glücklich gewesen. Jetzt aber erfüllten das Mädchen Angst und Zweifel, ob sie ihn jemals wiedersehen werde, und das Geschwätz der Leute, daß ihr Verlobter wohl ein stattlicher, aber leichtfertiger junger Seemann sei, bedrückte sie.

Wie lange Marie dort so allein in den Dünen gesessen, wußte sie nicht, sie hatte sich wohl wie ein Kind in leichten Schlaf geweint. Sie erwachte erst, als am nachtdunklen Himmel schon Sterne funkelten. Leise fuhr der Wind durchs Dünengras.

Plötzlich wird Marie hellwach, eine Hand hat ihre Schulter berührt, und eine schöne Frauengestalt neigt sich zu ihr nieder. Ihr silbernes Kleid ist wie aus Mondstrahlen gewebt. Auf dem blonden Haar trägt sie eine Krone aus den goldenen Steinen des Meeres, die man Bernstein nennt. Von ihrem Hals löst sie eine Kette mit schönsten Perlen des golden schimmernden Bernsteins und reicht sie dem Mädchen mit den Worten: »Weine nicht mehr, du junges Menschenkind, aus tiefem Herzeleid wird dir am Ende doch dein Lebensglück erblühen. Nimm diese Kette aus meinen Händen und wisse, ich bin die Bernsteinfee.«

Marie glaubte zu träumen, aber sie fühlte die Kette in ihren Händen, und innige Freude stieg in ihr auf, als sie die wunderbaren Perlen durch ihre Finger gleiten ließ. Als sie danken wollte, war die schöne Fee verschwunden. Das Mädchen stand auf und ging, ruhiger geworden, nach Hause. Ihre Eltern atmeten auf, als sie Marie endlich in die Stube treten sahen, denn sie hatten sie schon bei den Nachbarn gesucht.

Der junge Steuermann nahm den Abschied nicht schwer. Manchmal kam ein Brief von ihm, aber er schrieb immer vergnügt, und nie stand auch nur ein Wort von Sehnsucht nach seiner Braut darin. Dann verging ein Monat nach dem andern, ohne daß Marie eine Nachricht von ihm erhielt. Von heimkehrenden Seeleuten hörte der Lotse eines Tages, der junge Steuermann sei in einem Hafen bei einem Vergnügen uns Leben gekommen. Er hatte mit den Eingeborenen Streit angefangen, den er mit dem Leben büßte.

Marie betrauerte ihren Verlobten aufrichtig. Still tat sie jeden Tag ihre Arbeit im Hause ihrer Eltern.

Einmal kam ein neuer Lotse in das Haus, zur Unterstützung ihres Vaters. Er war jung und stark, und wenn es galt, Menschenleben aus Sturmesnot zu retten, setzte er sich mutig ein. Die jungen Mädchen putzten sich sonntags ordentlich heraus, um ihm zu gefallen, wenn es zum Tanze ging. Nur Marie blieb immer daheim. Ihr Vater schätzte aber seinen jungen, tüchtigen Kameraden sehr, so wie diesen hatte er sich immer einen Sohn gewünscht.

Der Winter hatte viel Eis und Schnee gebracht, und nun meldete sich der Frühling an mit Eisgang und mit Sturm. In diesem Jahre schien es schlimm zu werden. In mancher dunklen Nacht erscholl das Horn des Strandwächters und trieb die Menschen heraus.

Eines Nachts stieg die Flut so weit, daß sie die Fischerkaten, nahe am Strande unterspülte. Die meisten Häuser standen höher, aber auch bis dahin stieg die Flut unter fortwährendem Heulen des Sturmes.

Marie war mit der Magd ständig draußen, um den Männern zu helfen, wenn sie mit Booten Frauen und Kinder, auch Hausrat und Vieh in Sicherheit brachten. Aber plötzlich merkten sie, daß das Wasser noch immer stieg und sie selbst nun auch gefährdet waren. Im Schein von Fackeln und Laternen versuchten sie, mit dem Nötigsten bis zur Kirche zu gelangen. Diese bot noch Schutz, weil sie am höchsten gelegen war und starke Mauern hatte.

In der Kirche suchte Marie nach der Mutter und der Großmutter, denn sie glaubte die beiden Frauen dort geborgen. Da hieß es auf einmal, vom Hause des Lotsen höre man noch Hilferufe von Frauen. Marie war wie gelähmt vor Entsetzen. Die ganze Nacht hatte sie den anderen mit allen Kräften geholfen. Wer hilft mir nun? dachte sie verzweifelt. Aber alle Menschen waren ermüdet und zermürbt und glaubten, das Rettungswerk sei vollendet. Maries Vater wollte allein noch einmal das Boot ins dunkle, wogende Wasser bringen. Doch die andern hielten ihn wortlos zurück, indem sie auf ein Boot wiesen, das mitten auf der Flut bereits seinem Hause zufuhr. Ohne ein Wort zu verlieren, hatte Knut, der junge Lotse, auf den Hilferuf der Frauen sein Boot sofort zu Wasser gebracht. Gewaltig schwankten die beiden Sturmlaternen auf und nieder, aber in letzter Minute gelang ihm die Rettung. Kaum hatte er die beiden Frauen im Boot, da riss das tosende Wasser Türen und Treppen ein und spülte alles fort.

So schlimm wie in diesem Jahr hatte die grausige Sturmflut lange nicht am Strande der Ostsee gewütet. Groß waren Schaden und Not.

Aber sobald sich die Fluten verlaufen hatten, begannen die Menschen wieder aufzubauen.

Übers Jahr zu Pfingsten, als sich die Natur mit frischem Grün geschmückt hatte, sah das Fischerdorf ein junges, glückliches Paar, Knut und Marie. Der schönste Schmuck der Braut war eine Bernsteinkette aus herrlich glänzenden Perlen, das Geschenk der Bernsteinfee.

Am Abend führte Marie ihren Mann zu der Stelle in den Dünen, wo ihr die Fee erschienen war.

Wieder war ihr, als hörte sie es im hohen Dünengras leise rauschen und flüstern:

»Wer ihn trägt, des Meeres goldnen Stein, wird nimmermehr vom Glück verlassen sein.«

Der Wunsch der Bernsteinfee war in Erfüllung gegangen, aus Not und tiefem Herzeleid war doch noch ihr Lebensglück erblüht.

Quelle: Eine Sage vom Ostseestrand 

Samstag, 30. Dezember 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Die Meisterjungfer

Es war einmal ein König, der hatte mehrere Söhne, wie viel es aber eigentlich waren, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Als der jüngste herangewachsen war, hatte er keine Ruhe mehr zu Hause - er wollte mit aller Gewalt fort in die Welt und sein Glück versuchen, und er bat seinen Vater so lange, bis dieser ihm endlich die Erlaubnis zum Reisen erteilte.

Als er nun einig Tage gereist war, kam er zu einem Riesenschloß, und da gab er sich bei dem Riesen in Dienst. Am nächsten Morgen machte sich der Riese in aller Frühe auf, um seine Ziegen zu hüten, dem Königssohn aber befahl er, währenddessen den Stall auszumisten. "Und wenn du damit fertig bist", sagte er, "dann hast du für heute Feierabend; denn du musst wissen, dass du zu einem guten Herrn gekommen bist. Du musst aber auch getreu und ordentlich verrichten, was ich dir auftrage, und dann darfst du in keins von den Zimmern gehen, in denen du noch nicht gewesen bist - tust du es dennoch, so kostet es dich das Leben." - "Ja, wahrhaftig", sagte der Königssohn, als der Riese fort war, "das ist doch ein guter Herr!" Und er ging auf und ab im Zimmer und sang und tralleite; denn er meinte, mit dem Ausmisten hätte es noch gute Weile. "Aber wissen möchte ich doch, was in den anderen Zimmern sein mag", sagte er, "es muss wohl etwas Besonderes sein, weil er mir so streng verboten hat, hineinzugehen."

Und dann ging er rasch in das erste Zimmer. Hier hing ein Kessel von der Decke herab und kochte; aber der Königssohn sah kein Feuer darunter. Was wohl drin sein mag? dachte er und tauchte einen Handschuh hinein Als er ihn wieder herauszog, sah er aus als wär' er von lauter Kupfer. "Eine schöne Suppe!", sagte er. "Wenn einer davon kostete, würde er gewiss hübsch um den Schnabel aussehen."

Hierauf ging er in das zweite Zimmer, und da hing auch ein Kessel von der Decke herab und brutzelte und kochte, aber auch hier war kein Feuer darunter. "Den muss ich auch mal probieren", sagte der Königssohn und steckte wieder seinen Handschuh hinein, und nun wurde er ganz versilbert. "So teure Suppe gibt's nicht auf meines Vaters Schloss", sagte der Königssohn, "es fragt sich nur, wie sie schmeckt." Hierauf ging er in das dritte Zimmer, und da hing auch ein Kessel von der Decke herab und kochte, ganz so wie in den beiden anderen Zimmern. Der Königssohn bekam Lust, auch den zu probieren und tauchte wieder den Handschuh hinein, und da wurde er so blank vergoldet, dass es nur so blitzte. "Donnerwetter!" sagte der Königssohn. "Wird hier Gold gekocht, was mag denn dann dort drinnen kochen?"

Und damit ging er in das vierte Zimmer. Hier war kein Kessel zu sehen; aber auf der Bank saß eine Jungfrau, das war gewiss eine Königstochter. Aber wessen Tochter sie auch sein mochte, so hatte doch der Königssohn noch nie ein so schönes Mädchen gesehen. "Um Himmels willen, was willst du hier?" rief sie, als sie ihn erblickte. "Ich bin seit gestern hier im Dienst", sagte der Königssohn. "Gott helfe dir bei dem Dienst, den du hier angenommen hast", sagte sie. "Oh, es deucht mir, ich habe einen guten Herrn bekommen", sagte der Königssohn, "er hat mir heute keine besonders schwere Arbeit aufgegeben; wenn ich den Stall ausgemistet habe, kann ich Feierabend machen." - "Ja, aber wie willst du das anfangen?" sagte sie, "denn wenn du so ausmistest wie andere Leute, so kommen für jede Schaufel Mist, die du hinauswirfst, wieder zehn andre Schaufeln voll herein. Ich will dir aber sagen, wie du es machen sollst; du musst bloß die Schaufel umkehren und mit dem Stiel ausmisten, dann fliegt alles von selbst hinaus." - "Ja, darauf will ich schon Acht geben", sagte der Königssohn. Und nun blieb er den ganzen Tag über bei der Prinzessin, denn sie waren sich bald darüber einig geworden, dass sie heiraten wollten, und da wurde dem Königssohn der erste Tag, den er bei dem Riesen diente, nicht eben lang, kannst du glauben. Als es aber auf den Abend zuging, sagte sie zu ihm: "Nun ist es am besten, du mistest den Stall aus, ehe der Riese wieder nach Hause kommt."

Als der Bursche in den Stall kam, wollte er erst sehen, ob es sich wirklich so verhielt, wie die Königstochter ihm gesagt hatte, und fing an so auszumisten, wie er es früher von den Stallknechten seines Vaters gesehen hatte. Aber er musste bald damit aufhören; denn als er eine Weile so gemistet hatte, war im Stall beinahe kein Platz mehr, wo er stehen konnte. Darauf mistete er so aus, wie die Königstochter es ihn gelehrt hatte: er kehrte die Schaufel um und mistete mit dem Stiel, und nun dauerte es kaum einen Augenblick, da war der Stall so rein, als ob er gefegt und gescheuert wäre. Als er damit fertig war, ging er wieder zurück in das Zimmer, das der Riese ihm angewiesen hatte, und da spazierte er auf und ab und sang und tralleite.

Endlich kam der Riese mit den Ziegen nach Hause, und als erstes fragte er den Königssohn: "Hast du nun den Stall ausgemistet?" - "Ja, Herr, der ist rein und sauber", erwiderte der Königssohn. "Das will ich mal sehen", sagte der Riese und ging in den Stall; aber es verhielt sich so, wie der Königssohn gesagt hatte. "Du hast gewiss mit meiner Meisterjungfer gesprochen", sagte der Riese, "denn das hast du nicht von dir selber." - "Meisterjungfer? Was ist denn das für eine?" fragte der Königssohn und stellte sich ganz dumm, "die möchte ich wohl mal sehen." - "Du wirst sie noch früh genug zu sehen kriegen", antwortete der Riese.

Als der Riese am anderen Morgen die Ziegen wieder auf die Weide trieb, trug er dem Königssohn auf, er solle sein Pferd von der Koppel holen, und wenn er das getan habe, könne er Feierabend machen. "Du bist nämlich zu einem guten Herrn gekommen, musst du wissen", sagte er wieder. "Gehst du aber in irgendeins der Zimmer, die ich dir verboten habe, so drehe ich dir den Hals um." Und dann trieb er seine Herde in den Wald. "Ja, wahrhaftig, du bist ein guter Herr!" sagte der Königssohn, "ich möchte aber doch wieder ein Wort mit der Meisterjungfer sprechen, vielleicht gehört sie mir noch früher als dir."

Und so ging er wieder zu ihr. Sie fragte ihn, was der Riese ihm für diesen Tag zu tun befohlen habe. "Oh, es ist keine besonders schwere Arbeit", sagte er, "ich soll bloß das Pferd von der Koppel holen." - "Ja, aber wie willst du das anfangen?" fragte ihn die Meisterjungfer. "Oh, es ist wohl keine besondere Kunst, ein Pferd von der Koppel zu holen", erwiderte der Königssohn, "denn ich will doch meinen, dass ich schon manches schnelle Pferd geritten habe." - "Die Sache ist aber doch nicht so leicht", sagte sie, "ich will dich jedoch lehren, wie du es machen musst: sobald du das Pferd erblickst, wird es auf dich zustürmen und Feuer und Flammen aus beiden Nüstern schnauben. Pass aber dann gut auf und nimm das Gebiss, das dort bei der Tür hängt, und wirf es ihm ins Maul, dann wird es augenblicklich so zahm, dass du damit tun kannst, was du willst." - "Ja, darauf will ich schon achten", sagte der Königssohn und blieb nun den ganzen Tag bei der Meisterjungfer, und sie schwatzten von diesem und jenem, und wie herrlich und vergnügt sie leben wollten, wenn sie erst aus der Gewalt des Riesen und miteinander verheiratet wären. Der Königssohn hätte gewiss Pferd und Koppel darüber vergessen, wenn ihn nicht die Meisterjungfer gegen Abend daran erinnert und zu ihm gesagt hätte, es wäre am besten, wenn er jetzt das Pferd hole, ehe der Riese nach Hause komme.

Das tat er denn auch, er nahm das Gebiss, das bei der Tür hing, und lief damit zur Koppel. Nun dauerte es nicht lange, da kam das Pferd angestürmt und schnob Feuer und Flammen aus beiden Nüstern. Der Königssohn aber nahm die Gelegenheit wahr und warf ihm das Gebiss in den offenen Rachen, und nun stand das Pferd still, so geduldig wie ein Lamm, und da war's keine besonders große Kunst, es zum Stall zu bringen. Als der Bursche damit fertig war, ging er wieder zurück auf sein Zimmer, und dort spazierte er auf und ab und sang und tralleite.

Wie nun der Riese mit den Ziegen nach Hause kam, war seine erste Frage: "Hast du auch das Pferd von der Koppel geholt?" - "Ja, Herr!" erwiderte der Königssohn. "Das war ja ein feuriges Reitpferd, aber ich hab's glücklich in den Stall gebracht." - "Das will ich mal sehen!" sagte der Riese und ging in den Stall; das Pferd aber stand ganz richtig da, wie der Königssohn gesagt hatte. "Du hast gewiss mit meiner Meisterjungfer gesprochen", sagte der Riese, "denn das hast du nicht von dir selber!" - "Gestern spracht Ihr schon von dieser Meisterjungfer und heute wieder", sagte der Königssohn und stellte sich ganz dumm und einfältig. "Was ist denn das für eine, Herr? Ich möchte sie doch gern einmal sehen." - "Du wirst sie noch früh genug zu sehen kriegen", sagte jener.

Als der Riese am drillen Morgen seine Ziegen in den Wald trieb, sagte er zu dem Königssohn: "Heute sollst du nach der Hölle gehen und den Brandschatz holen, und wenn du das getan hast, kannst du Feierabend machen, denn du bist zu einem guten Herrn gekommen, musst du wissen." - "Ja, ich will's glauben", sagte der Königssohn, als der Riese gegangen war, "wie gut du auch sein magst - die Arbeiten, die du mir aufträgst, sind doch garstig. Ich will aber mal wieder ein Wort mit deiner Meisterjungfer sprechen; du sagst zwar, sie gehöre dir, aber vielleicht verrät sie mir doch, wie ich es machen muss."

Und so ging er wieder zu der Meisterjungfer. Als sie ihn nun fragte, welche Arbeit ihm der Riese für diesen Tag aufgegeben habe, sagte er, dass er ihm befohlen habe, nach der Hölle zu gehen und den Brandschatz zu holen. "Und wie willst du das anfangen?" fragte ihn die Meisterjungfer. "Ja, du musst es mir sagen", versetzte der Königssohn, "denn in der Hölle bin ich noch nicht gewesen, und wenn ich auch den Weg dahin wüsste, so weiß ich doch nicht, wie viel ich fordern soll." - "Ja, ich will dir wohl helfen", versetzte die Meisterjungfer. "Du musst zu dem Felsen dort hinter der Koppel gehen und den Kloben nehmen, der da liegt, und damit an die Felswand klopfen. Dann wird wohl einer herauskommen, dass es nur so knistert, dem musst du deinen Auftrag sagen, und wenn er dich dann fragt, wie viel du haben willst, dann sage nur: "Soviel ich tragen kann." - "Ja, darauf will ich schon Acht geben ", sagte der Königssohn und blieb nun wieder bei der Meisterjungfer, bis es Abend wurde. Er wäre auch gern noch länger dageblieben, doch sie erinnerte ihn daran, dass er fort müsse nach der Hölle und den Brandschatz holen, ehe der Riese wieder nach Hause komme.

Der Bursche machte sich nun auf und tat, wie die Meisterjungfer ihm gesagt hatte, ging zu dem Felsen hinter der Koppel, nahm den Kloben und klopfte damit an die Wand. Sogleich kam einer heraus, dem die Funken aus Augen und Nase flogen. "Was willst du?" rief er. "Ich soll von dem Riesen grüßen und den Brandschatz für ihn fordern", sagte der Königssohn. "wie viel willst du haben?" fragte der andere. "Oh, ich verlange nicht mehr, als ich tragen kann", versetzte der Königssohn. "Es war dein Glück, dass du nicht ein ganzes Fuder verlangt hast", sagte der, der aus der Felswand gekommen war. "Aber komm jetzt herein, dann will ich dir den Brandschatz auszahlen."

Der Königssohn ging mit ihm hinein, und da sah er in dem Berg Gold- und Silberbrocken in Haufen in der Erde liegen. Er bekam nun eine Tracht, so groß, wie er sie nur tragen konnte, und damit ging er seines Weges.

Als am Abend der Riese mit den Ziegen nach Hause kam, spazierte der Königssohn ebenso wie die beiden Abende zuvor im Zimmer auf und ab und sang tralleite. "Bist du in der Hölle gewesen und hast den Brandschatz geholt?" fragte ihn der Riese. "Der Goldsack steht dort auf der Bank", erwiderte der Königssohn. "Das will ich mal sehen", sagte der Riese, und als er hinsah, stand da ein Sack, der war so prall gefüllt, dass die Gold- und Silberstücke heraus fielen, sowie der Riese nur das Band ein wenig auflockerte. "Du hast gewiss mit meiner Meisterjungfer gesprochen", sagte er, "aber wenn du das getan hast, dann drehe ich dir das Genick um." - "Mit Eurer Meisterjungfer?" fragte der Königssohn, "gestern und vorgestern schwatztet Ihr schon von Eurer Meisterjungfer und heute wieder? Was ist denn das für eine, Herr? Ich möchte sie doch gern einmal sehen." - "Ja, warte nur bis morgen, dann sollst du sie sehen", sagte der Riese. - "Danke schön", sagte der Königssohn, "aber Ihr macht wohl bloß Spaß, Herr."

Den Tag darauf ging der Riese mit ihm in das Zimmer, in dem die Meisterjungfer war. "Jetzt sollst du ihn schlachten und ihn in dem großen Kessel für mich zum Mittagessen kochen, und wenn die Suppe fertig ist, kannst du mich rufen", sagte er zu ihr und streckte sich auf der Bank aus. Und während er nun dalag und schnarchte, dass der Berg bebte, nahm die Meisterjungfer ein Messer, schnitt damit den Burschen in den Finger und ließ drei Blutstropfen auf die Bank fließen. Darauf nahm sie alle alten Lappen und Schuhsohlen und anderen Kram, den sie finden konnte, und warf es in den Kessel. Dann nahm sie einen ganzen Kasten voll gemahlenen Goldes und einen Salzstein und eine Wasserflasche, die bei der Tür hing, und einen goldenen Apfel und zwei goldene Hühner nahm sie auch mit, und nun machten sich die beiden aus dem Staube, so schnell sie nur konnten.

Als sie ein Ende gegangen waren, kamen sie ans Meer, und da segelten sie davon - wie sie aber zu dem Schiff gekommen waren, habe ich nie so recht erfahren können.

Als der Riese eine gute Weile geschlafen hatte, fing er an sich zu strecken. "Ist das Essen noch nicht fertig?" fragte er. "Eben erst angefangen!" sagte der erste Blutstropfen auf der Bank. Darauf legte er sich wieder schlafen und schlief noch eine gute Zeit, endlich fing er wieder an sich zu strecken. "Ist jetzt das Essen fertig?" fragte er, aber ohne aufzusehen, denn er war noch immer halb im Schlaf. "Halb fertig!" sagte der zweite Blutstropfen. Der Riese aber glaubte, die Meisterjungfer sage das, drehte sich wieder um und schlief weiter. Als er nun viele Stunden hintereinander geschlafen hatte, fing er endlich wieder an sich zu rühren und zu strecken. "Ist es denn jetzt fertig?" fragte er. "Vollkommen fertig!" antwortete der dritte Blutstropfen.

Der Riese richtete sich auf und rieb sich die Augen; aber er konnte die Meisterjungfer nirgends erblicken, und darum rief er sie beim Namen. Er bekam aber keine Antwort. Oh! dachte er, sie ist wohl nur ein wenig hinausgegangen, und nahm einen Löffel und schöpfte damit aus dem Kessel, um das Essen zu probieren. Da fand er aber nichts als lauter Schuhsohlen und Lumpen und dergleichen Kram, und das war so zusammengekocht, dass er nicht wusste, ob's Fisch oder Fleisch war. Als er das merkte, konnte er sich wohl denken, wie sich die Sache verhielt, und wurde so wütend, dass er sich nicht mehr zu halten wusste. Er eilte sogleich dem Königssohn und der Meisterjungfer nach, und es dauerte nicht lange, so stand er am Wasser, aber da konnte er nicht hinüber. "Ich weiß schon Rat", sagte er, "ich will bloß meinen Meersauger rufen." Wie nun der Meersauger kam, legte er sich auf die Erde nieder und tat dreimal einen kräftigen Zug, und da schrumpfte das Meer so zusammen, dass der Riese die Meisterjungfer und den Königssohn auf dem Schiff sehen konnte. "Jetzt musst du den Salzstein hinauswerfen", sagte die Meisterjungfer; und als der Königssohn das getan hatte, entstand plötzlich mitten im Meer ein so hoher Berg, dass der Riese nicht hinüber konnte, und der Meersauger konnte ihm nun auch nichts helfen. "Ich weiß schon Rat", sagte der Riese und holte sich seinen Bergbohrer, und damit bohrte er ein großes Loch durch den Berg, so dass der Meersauger wieder trinken konnte. Wie die Meisterjungfer das gewahr wurde, sagte sie zu dem Königssohn, er solle jetzt einen oder zwei Tropfen aus der Flasche ins Meer gießen, und als der Königssohn das getan hatte, war das Meer wieder ganz voll. Ehe nun der Meersauger wieder einen kräftigen Zug tun konnte, waren sie schon an Land und gerettet.

Nun wollte der Königssohn die Meisterjungfer zu seines Vaters Schloss bringen; aber er meinte, es schicke sich nicht, dass sie zu Fuß gehe, und darum sagte er zu ihr: "Warte hier eine Weile, ich will nur nach Hause gehen und die sieben Pferde holen, die in meines Vaters Stall stehen; denn ich möchte nicht gern, dass meine Braut zu Fuß auf dem Schloss ankäme. Der Weg dahin ist nicht lang, und ich werde bald wieder hier sein." - "Ach nein, tu das nicht!" bat sie, "denn kommst du erst zu deines Vaters Schloss, dann wirst du mich bald vergessen." - "Wie sollte ich dich wohl vergessen", sagte der Königssohn, "da wir so viel Ungemach zusammen erduldet und uns so lieb haben?" Und er wollte und musste nach Hause und einen Wagen und die sieben Pferde holen, und sie sollte solange dort am Ufer auf ihn warten. Weil er es nun durchaus nicht anders wollte, so musste die Meisterjungfer endlich nachgeben. "Aber", sagte sie, "wenn du auf das Schloss kommst, musst du dir nicht einmal so viel Zeit lassen, dass du jemanden begrüßt, sondern geradewegs in den Stall gehen und die Pferde vor den Wagen spannen und dann davonjagen, so schnell du nur kannst; denn sie werden wohl alle sehr neugierig sein und sich um dich scharen. Aber du musst tun, als ob du sie gar nicht bemerktest. Und dann darfst du auf keinen Fall einen Bissen von dem, was man dir anbietet, essen; tust du das, dann machst du dich und mich unglücklich." Der Königssohn versprach ihr, sich genau nach allem zu richten, was sie ihm gesagt hatte, und versicherte ihr, sie brauche bestimmt nicht zu befürchten, dass er sie je vergessen könne.

Als aber der Königssohn auf dem Schlosshof ankam, hielt gerade einer von seinen Brüdern Hochzeit, und die Braut und alle Gäste waren schon da, und alle scharten sich um ihn und fragten ihn nach diesem und jenem und baten ihn, mit ins Schloss zu kommen. Er tat jedoch, als ob er sie gar nicht bemerkte, ging geradewegs in den Stall, holte die Pferde heraus und wollte sie vor den Wagen spannen. Wie sie ihn nun durch nichts bewegen konnten, mit ins Schloss zu kommen, brachten sie ihm zu essen und zu trinken von dem Besten, das man zur Hochzeit angerichtet hatte. Aber der Königssohn wollte keinen Bissen anrühren, sondern beeilte sich nur, die Pferde vor den Wagen zu spannen. Da rollte zuletzt die Schwester der Braut einen Apfel über den Schlosshof zu ihm hin. "Wenn du denn durchaus nichts genießen willst", sagte sie, "so kannst du doch wenigstens in diesen Apfel beißen, denn du wirst wohl hungrig und durstig sein von der langen Reise!" Da hob der Königssohn den Apfel von der Erde auf und biss hinein. Aber kaum hatte er das getan, so vergaß er die Meisterjungfer und dass er sie holen wollte. "Bin ich denn verrückt?" sagte er. "Was will ich mit den Pferden und mit dem Wagen?" Und darauf brachte er die Pferde wieder in den Stall und ging mit den anderen ins Schloss; und nun dauerte es nicht lange, da war es soweit gekommen, dass er die Schwester der Braut, die ihm den Apfel zugerollt hatte, heiraten sollte.

Die Meisterjungfer saß indes am Ufer und wartete und wartete, aber kein Königssohn ließ sich sehen. Endlich ging sie fort, und als sie ein Ende gegangen war, kam sie zu einer kleinen Hütte, die ganz einsam in einem Walde, nicht weit von des Königs Schloss lag. Da ging sie hinein und bat um Herberge. Drinnen saß ein altes Weib, dem die Hütte gehörte, und das war eine arge und abscheuliche Trollhexe. Anfangs wollte sie von der Meisterjungfer gar nichts wissen; doch endlich und zuletzt gab sie ihr doch für Geld und gute Worte eine Herberge. Doch die Hütte war unsauber und schmutzig wie ein Schweinestall. Die Meisterjungfer sagte, sie wolle die Hütte ein wenig aufputzen, damit es aussehen würde wie bei anderen Leuten; aber das litt die Alte nicht, sondern fing an zu zetern und zu toben und war ganz entsetzlich böse. Die Meisterjungfer zog dessen ungeachtet ihren Schrein hervor und warf eine Handvoll Goldmehl in das Kaminfeuer. Da flackerte es hell auf, und ein roter Strahl zog durch die ganze Hütte, so dass sie innen und außen davon vergoldet wurde. Als die Alte das sah, wurde sie so wütend, dass sie aus der Haut fahren wollte, und rannte zur Hütte hinaus, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Dabei dachte sie jedoch nicht an den Türpfosten, sie rannte dagegen und zerbrach sich die Hirnschale.

Am Morgen darauf kam der Schulze vorbei, der war ganz verwundert über die goldene Hütte, die er im Walde glänzen sah; als er aber hineinging und drinnen die schöne Jungfrau erblickte, da wunderte er sich noch mehr, und er verliebte sich augenblicklich so heftig in sie, dass er um sie freite. "Ja, hast du aber auch genug Geld?" fragte die Meisterjungfer. "Ja, Geld habe ich genug", sagte er, und er wolle es auch sogleich holen.

Am Abend kam er wieder und brachte einen ganzen Scheffelsack voll und setzte ihn auf die Bank. Ja, wenn er so viel Geld hatte, wollte die Meisterjungfer ihn haben, und darauf legten sie sich zusammen ins Bett. Kaum aber hatten sie sich niedergelegt, da wollte die Meisterjungfer wieder aufstehen; denn sie habe noch vergessen, das Feuer im Kamin anzuschüren, sagte sie. "Ach behüte!" sagte der Schulze, "solltest du darum aufstehen? Das werde ich tun!" Und damit sprang er aus dem Bett und lief zum Kamin. "Sag mir Bescheid, wenn du den Feuerhaken angefasst hast", sagte die Meisterjungfer. "Nun habe ich ihn angefasst", sagte der Schulze. "So gebe Gott, dass du ihn festhältst und er dich und dass du da stehen magst die ganze Nacht und Kohlen und Asche kratzt bis zum hellen Morgen!" sagte die Meisterjungfer. Und als sie das gesagt hatte, blieb der Schulze vor dem Kamin stehen und kratzte sich Kohlen und Asche über den Kopf, die ganze Nacht hindurch, und wie sehr er auch weinen und bitten und kratzen mochte, so verloschen darum die Kohlen doch nicht, und die Asche wurde nicht kälter.

Erst gegen Morgen ließ ihn der Feuerhaken los; aber nun blieb er keinen Augenblick länger in der Hütte, sondern machte sich fort, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Alle Leute, die ihm begegneten, lachten; denn er legte los, als ob er toll wäre, und er sah so schändlich aus, als wenn man ihn gegerbt oder geschunden hätte.

Am Tag darauf kam der Amtsschreiber vorbei; der sah auch die Hütte im Walde glänzen, und als er hineinging, um zu sehen, wer da wohnte, und die schöne Jungfrau erblickte, da verliebte er sich in sie noch heftiger als der Schulze und freite stehenden Fußes um sie. Ja, sagte die Meisterjungfer wieder, sie wollte ihn wohl haben, wenn er nur Geld hätte. Geld habe er genug, erwiderte der Schreiber, und er wolle es sogleich holen. Am Abend kam er mit einem großen, schweren Sack an - ich glaube gewiss, es waren zwei Scheffel drin - und den setzte er auf die Bank. Nun war denn weiter nichts im Wege, und sie legten sich ins Bett. Aber kaum hatten sie sich niedergelegt, da hatte die Meisterjungfer vergessen, die Haustür zuzumachen, und darum wollte sie wieder aufstehen. "Ach behüte! Solltest du das tun?" sagte der Schreiber. "Nein, bleib nur liegen! Ich will hingehen." Und damit sprang er aus dem Bett, so leicht wie eine Erbse auf Birkenrinde, und lief hinaus auf die Diele. "Sag mir, wenn du die Tür angefasst hast", rief die Meisterjungfer. "Nun hab ich sie angefasst!" rief der Schreiber auf der Diele. "So gebe Gott, dass du sie festhältst und sie dich auch und dass ihr hin- und herfahren möget die ganze Nacht, bis es Tag wird!" sagte die Meisterjungfer. Und nun musste der Schreiber die ganze Nacht über mit der Tür vorwärts und rückwärts tanzen; aber einen solchen Walzer hatte er noch nie getanzt, und es verlangte ihn auch nachher nicht nach einer Wiederholung. Bald war er vom und bald die Tür, und es ging vom Pfosten an die Mauer und von der Mauer an den Pfosten, so dass der Schreiber sich beinahe zu Tode stieß. Er fluchte und weinte und bat, aber die Tür kümmerte sich überhaupt nicht darum, sondern hielt ihn fest bis zum Morgen, dann erst ließ sie ihn los - und der Schreiber lief auf und davon, als ob's für Geld ginge. Er vergaß Freierei und Goldsack und war nur froh, dass die Tür nicht hinter ihm her getanzt kam. Alle Leute, die ihm begegneten, lachten; denn er flog davon, als ob er toll wäre, und dazu sah er schlimmer aus, als wenn er die ganze Nacht unter den Böcken gewesen wäre.

Am dritten Tag kam der Amtmann vorbei; der hatte kaum die goldene Hütte erblickt, da wollte er auch sehen, wer darin wohnte; und als er nun drinnen die Meisterjungfer erblickte und sie kaum begrüßt hatte, war er schon so heftig verliebt in sie, dass er augenblicklich um sie freite. Die Meisterjungfer aber antwortete ihm ebenso wie den beiden anderen, wenn er genug Geld hätte, dann wollte sie ihn wohl haben. Ja, davon hätt' er nicht so wenig. sagte der Amtmann und ging sogleich nach Hause, um es zu holen. Als er am Abend wiederkam, brachte er einen noch größeren Sack mit als der Schreiber - es waren gewiss drei Scheffel drin - und setzte ihn auf die Bank.

Ja, so war denn nun nichts weiter im Wege, nun sollte er die Meisterjungfer bekommen. Kaum aber hatten sie sich zu Bett gelegt, da sagte die Meisterjungfer, sie hätte vergessen, das Kalb einzulassen, und wollte darum wieder aufstehen. Nein, zum Kuckuck! Das solle sie ja nicht, das wolle er schon tun, sagte der Amtmann und sprang, dick und fett wie er war, leichtfüßig wie ein junger Bursche aus dem Bett. "Sag mir, wenn du das Kalb beim Schwanz hältst!" sagte die Meisterjungfer. "Jetzt halte ich's!" rief der Amtmann. "So gebe Gott, dass du den Schwanz festhältst und er dich und dass ihr in der Welt herum fahren möget bis zum Morgen!" sagte die Meisterjungfer. Und kaum hatte sie dies gesagt, da legte das Kalb mit dem Amtmann los, über Stock und Stein, über Berg und Tal, dass die Heide wackelte, und je mehr der Amtmann fluchte und schrie, desto schneller rannte das Kalb mit ihm davon.

Als es Tag wurde, war der Amtmann beinahe zu Matsch, und da erst ließ das Kalb ihn los. Mittlerweile hatte er aber seine Freierei ganz vergessen und seinen Geldsack ebenfalls. Er bewegte sich nun zwar etwas geruhsamer als der Schreiber und der Schulze, aber je langsamer er fort kroch, desto mehr Zeit hatten die Leute, ihm nachzugucken und zu lachen.

Am Tag darauf sollte auf dem Schloss die Hochzeit des ältesten und des jüngsten Prinzen gefeiert werden; der jüngste, der bei dem Riesen gewesen war, sollte nämlich die Schwester von der Braut seines Bruders heiraten, und beide Brautpaare sollten in der Kirche zugleich getraut werden. Als sie aber in den Wagen stiegen und vom Schlosshof fahren wollten, da zerbrach die Deichsel; sie nahmen nun eine andere, aber die zerbrach auch. Darauf nahmen sie eine dritte, aber es half ihnen alles nichts, denn was für Holz sie auch nehmen mochten, es hielt doch nicht. Wie sie nun ganz missmutig dastanden und nicht fort konnten, sagte der Schulze - denn der war auch mit zur Hochzeit geladen, musst du wissen -: "Dort im Walde wohnt eine Jungfrau, die hat einen Feuerhaken, mit dem sie das Feuer anschürt, lasst sie nur bitten, dass sie Euch diesen Feuerhaken leiht - der geht nicht entzwei, das weiß ich gewiss." Es wurde nun sogleich zu der Jungfrau geschickt, und sie ließen sie bitten, ihnen doch den Feuerhaken zu leihen, von dem der Schulze gesprochen hatte. Die Jungfrau sagte auch nicht nein, sondern gab dem Boten ihren Feuerhaken, und nun hatten sie eine Deichsel, die nicht entzweiging, kannst du glauben.

Als sie aber vom Schlosshof fahren wollten, zerbrach plötzlich der Wagenboden; und wie oft sie auch einen neuen Boden machten, und welches Holz sie dafür auch nehmen mochten, so half doch alles nichts. denn wenn sie vom Hof fahren wollten, ging er jedes Mal wieder entzwei, und sie waren nun noch übler dran als vorher mit der Deichsel. Endlich sagte der Amtsschreiber - denn wo der Schulze war, da durfte der Schreiber nicht fehlen, das kann man sich wohl denken -: "Dort im Walde wohnt eine Jungfrau, wenn die Euch bloß ihre eine Tür leihen würde, die aus lauter Gold ist, die geht nicht entzwei, das weiß ich gewiss." Sogleich wurde nun wieder zu der Jungfrau geschickt, und sie ließen sie bitten, ihnen doch die eine Halbtür zu leihen, von der der Schreiber gesprochen hatte, und sie bekamen sie denn auch.

Nun war alles gut, und sie wollten zur Kirche fahren; aber da waren die Pferde nicht imstande, den Wagen fortzuziehen. Sechs Pferde hatten sie schon davor, dann spannten sie acht vor, dann zehn, dann zwölf, aber wie viele sie auch vorspannten und wie sehr der Kutscher auch peitschen mochte, es half alles nichts, der Wagen rührte sich nicht vom Fleck. Es war nun schon ziemlich spät geworden, und zur Kirche wollten und mussten sie, und wie sie nun gar nicht fortkommen konnten, waren sie alle nahe daran zu verzweifeln. Zuletzt sagte aber der Amtmann, dort im Walde wohne eine Jungfrau, die habe ein Kalb, das - ja, wenn sie bloß das Kalb geliehen bekämen, sagte er, das würde den Wagen schon ziehen, und wenn er so schwer wäre wie ein Berg. Sie meinten nun zwar, es sähe nicht sehr hübsch aus, mit einem Kalb zur Kirche zu fahren; aber sie wussten sich nun einmal keinen anderen Rat, sie mussten wieder zu der Jungfrau schicken und sie bitten lassen, ihnen doch das Kalb zu leihen, von dem der Amtmann gesprochen hatte. Die Meisterjungfer sagte auch diesmal nicht nein, sondern gab dem Boten sogleich das Kalb. Als sie. es dann vorgespannt hatten, sauste der Wagen davon über Stock und Stein, über Berg und Tal, so dass sie kaum Atem holen konnten; bald waren sie auf der Erde, und bald waren sie in der Luft, und als sie zur Kirche kamen, flog der Wagen rund um die Kirche, so schnell wie ein Haspel, und es gelang ihnen, nur mit knapper Not herunterzukommen. Auf dem Rückweg aber ging's noch schneller, und als sie wieder auf dem Schlosshof ankamen, hatten sie alle fast die Besinnung verloren.

Als sie sich zu Tisch gesetzt hatten, sagte der Königssohn - der auf dem Riesenschloß gewesen war -, es schicke sich wohl so, dass sie auch die Jungfrau einluden, die ihnen den Feuerhaken, die Halbtür und das Kalb geliehen hatte. "Denn ohne diese drei Dinge wären wir noch nicht von der Stelle gekommen", sagte er. Ja, dem König deuchte auch, das wäre nicht mehr als billig, und er schickte sogleich fünf von seinen Leuten zu der vergoldeten Hütte mit einem Gruß von ihm, und die Jungfrau möchte doch so gut sein und aufs Schloss kommen und da zu Mittag essen. Die Jungfrau aber antwortete: "Grüßt nur den König wieder von mir und sagt ihm, wenn er sich zu gut dünke, selbst zur mir zu kommen, so dünke ich mich auch viel zu gut, zu ihm zu kommen." Nun musste der König sich denn selbst aufmachen, und da ging die Jungfrau auch sogleich mit. Der König aber konnte sich wohl denken, dass sie etwas mehr war, als sie zu sein schien, und setzte sie darum bei der Tafel obenan zu dem jüngsten Bräutigam. Als sie nun eine Weile gesessen hatten, nahm die Meisterjungfer den Hahn und das Huhn und den goldenen Apfel hervor, den sie aus dem Riesenschloß mitgenommen hatte, und legte sie vor sich auf den Tisch hin; und sogleich fingen der Hahn und das Huhn an, sich um den goldenen Apfel zu schlagen. "Ei, seht doch, wie die beiden da um den goldenen Apfel kämpfen!" sagte der Königssohn. "Ja, so hatten wir beide damals auch zu kämpfen, um aus dem Berg zu kommen", sagte die Meisterjungfer.

Da erkannte der Königssohn sie wieder, und seine Freude war unbeschreiblich. Die Trollhexe aber, die ihm den goldenen Apfel zugerollt hatte, ließ er von vierundzwanzig Pferden in Stücke zerreißen, so dass kein Fetzen an ihr ganz blieb; und nun begann erst die rechte Hochzeit, und der Schulze und der Schreiber und der Amtmann, so sehr sie sich auch die Flügel versengt hatten, waren auch mit dabei und hielten aus bis zuletzt.

Quelle: Aus Norwegen - Verfasser unbekannt 

Montag, 25. Dezember 2023

Frohe Weihnacht


Ein Märchenfilm für Euch 

Prinzessin Aurinia ist mit ihrer Magd Liesa und ihrem Pferd Falada auf dem Weg zum Schloss des Königs Ewald, dessen Sohn Ivo sie zur Frau versprochen wurde. Unterwegs zwingt Liesa die Prinzessin zum Rollentausch, sie selbst will Königin werden. Im Schloss angekommen, versucht Falada die falsche Braut zu entlarven. Liesa lässt Falada köpfen, den Kopf über dem finsteren Tor aufhängen, und Aurinia muss als Gänsemagd dienen. König und Prinz werden misstrauisch angesichts der Grausamkeit der vermeintlichen Prinzessin, und Ivo verliebt sich in die freundliche Magd Aurinia. Mithilfe des Hirtenjungen Kürdchen gelingt es König und Prinz, den Betrug aufzudecken. Liesa bekommt ihre gerechte Strafe, und die echte Prinzessin feiert mit Ivo Hochzeit. 

 

Samstag, 23. Dezember 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Die weiße und die schwarze Braut

Eine Frau ging mit ihrer Tochter und Stieftochter über Feld, Futter zu schneiden. Da kam der liebe Gott als ein armer Mann zu ihnen gegangen und fragte: "Wo führt der Weg ins Dorf?" "Wenn Ihr ihn wissen wollt", sprach die Mutter, "so sucht ihn selber", und die Tochter setzte hinzu: "Habt Ihr Sorge, dass Ihr ihn nicht findet, so nehmt Euch einen Wegweiser mit." Die Stieftochter aber sprach: "Armer Mann, ich will dich führen, komm mit mir." Da zürnte der liebe Gott über die Mutter und Tochter, wendete ihnen den Rücken zu und verwünschte sie, dass sie sollten schwarz werden wie die Nacht und hässlich wie die Sünde. Der armen Stieftochter aber war Gott gnädig und ging mit ihr, und als sie nahe am Dorf waren, sprach er einen Segen über sie und sagte: "Wähle dir drei Sachen aus, die will ich dir gewähren." Da sprach das Mädchen: "Ich möchte gern so schön und rein werden wie die Sonne;" alsbald war sie weiß und schön wie der Tag. "Dann möchte ich einen Geldbeutel haben, der nie leer würde;" den gab ihr der liebe Gott auch, sprach aber: "Vergiss das Beste nicht." Sagte sie: "Ich wünsche mir zum dritten das ewige Himmelreich nach meinem Tode." Das ward ihr auch gewährt, und also schied der liebe Gott von ihr.

Als die Stiefmutter mit ihrer Tochter nach Hause kam und sah, dass sie beide kohlschwarz und hässlich waren, die Stieftochter aber weiß und schön, so stieg die Bosheit in ihrem Herzen noch höher, und sie hatte nichts anders im Sinn, als wie sie ihr ein Leid antun könnte.

Die Stieftochter aber hatte einen Bruder namens Reginer, den liebte sie sehr und erzählte ihm alles, was geschehen war. Nun sprach Reginer einmal zu ihr: "Liebe Schwester, ich will dich abmalen, damit ich dich beständig vor Augen sehe, denn meine Liebe zu dir ist so groß, dass ich dich immer anblicken möchte." Da antwortete sie: "Aber ich bitte dich, lass niemand das Bild sehen." Er malte nun seine Schwester ab und hing das Bild in seiner Stube auf; er wohnte aber in des Königs Schloss, weil er bei ihm Kutscher war. Alle Tage ging er davor stehen und dankte Gott für das Glück seiner lieben Schwester.

Nun war aber gerade dem König, bei dem der diente, seine Gemahlin verstorben, die so schön gewesen war, dass man keine finden konnte, die ihr gliche, und der König war darüber in tiefer Trauer. Die Hofdiener bemerkten aber, dass der Kutscher täglich vor dem schönen Bilde stand, missgönnten es ihm und meldeten es dem König. Da ließ dieser das Bild vor sich bringen, und als er sah, dass es in allem seiner verstorbenen Frau glich, nur noch schöner war, so verliebte er sich sterblich hinein. Er ließ den Kutscher vor sich kommen und fragte, wen das Bild vorstellte. Der Kutscher sagte, es wäre seine Schwester, so entschloss sich der König, keine andere als diese zur Gemahlin zu nehmen, gab ihm Wagen und Pferde und prächtige Goldkleider und schickte ihn fort, seine erwählte Braut abzuholen.

Wie Reginer mit der Botschaft ankam, freute sich seine Schwester, allein die Schwarze war eifersüchtig über das Glück, ärgerte sich über alle Massen und sprach zu ihrer Mutter: "Was helfen nun all Eure Künste, da Ihr mir ein solches Glück doch nicht verschaffen könnt." "Sei still", sagte die Alte, "ich will es dir schon zuwenden." Und durch ihre Hexenkünste trübte sie dem Kutscher die Augen, dass er halb blind war, und der Weißen verstopfte sie die Ohren, dass sie halb taub war. Darauf stiegen sie in den Wagen, erst die Braut in den herrlichen königlichen Kleidern, dann die Stiefmutter mit ihrer Tochter, und Reginer saß auf dem Bock, um zu fahren. Wie sie eine Weile unterwegs waren, rief der Kutscher:

"Deck dich zu, mein Schwesterlein,

Dass Regen dich nicht nässt,

Dass Wind dich nicht bestäubt,

Dass du fein schön zum König kommst."

Die Braut fragte: "was sagt mein lieber Bruder?"

"Ach", sprach die Alte, "er hat gesagt, du solltest dein gülden Kleid ausziehen und es deiner Schwester geben." Da zog sie's aus und tat's der Schwarzen an, die gab ihr dafür einen schlechten grauen Kittel. So fuhren sie weiter; über ein Weilchen rief der Bruder abermals:

"Deck dich zu, mein Schwesterlein,

Dass Regen dich nicht nässt,

Dass Wind dich nicht bestäubt,

Dass du fein schön zum König kommst."

Die Braut fragte "was sagt mein lieber Bruder?"

"Ach", sprach die Alte, "er hat gesagt, du solltest deine güldene Haube abtun und deiner Schwester geben." Da tat sie die Haube ab und tat sie der Schwarzen auf und saß im bloßen Haar. So fuhren sie weiter; wiederum über eine Weile rief der Bruder:

"Deck dich zu, mein Schwesterlein,

Dass Regen dich nicht nässt,

Dass Wind dich nicht bestäubt,

Dass du fein schön zum König kommst."

Die Braut fragte "was sagt mein lieber Bruder?"

"Ach", sprach die Alte, "er hat gesagt, du möchtest einmal aus dem Wagen sehen." Sie fuhren aber gerade auf einer Brücke über ein tiefes Wasser. Wie nun die Braut aufstand und aus dem Wagen sich herausbückte, da stießen sie die beiden hinaus, dass sie mitten ins Wasser stürzte.

Als sie versunken war, in demselben Augenblick stieg eine schneeweiße Ente aus dem Wasserspiegel hervor und schwamm den Fluss hinab. Der Bruder hatte gar nichts davon gemerkt und fuhr den Wagen weiter, bis sie an den Hof kamen. Da brachte er dem König die Schwarze als seine Schwester und meinte, sie wär's wirklich, weil es ihm trübe vor den Augen war und doch die Goldkleider schimmern sah. Der König, wie er die grundlose Hässlichkeit an seiner vermeinten Braut erblickte, ward sehr bös und befahl, den Kutscher in eine Grube zu werfen, die voll Ottern und Schlangengezücht war. Die alte Hexe aber wusste den König doch so zu bestricken und durch ihre Künste ihm die Augen zu verblenden, dass er sie und ihre Tochter behielt, ja dass sie ihm ganz leidlich vorkam und er sich wirklich mit ihr verheiratete.

Einmal abends, während die schwarze Braut dem König auf dem Schosse saß, kam eine weiße Ente zum Gossenstein in die Küche geschwommen und sagte zum Küchenjungen:

"Jüngelchen, mach Feuer an,

Dass ich meine Federn wärmen kann."

Das tat der Küchenjunge und machte ihr ein Feuer auf dem Herd; da kam die Ente und setzte sich daneben, schüttelte sich und strich sich die Federn mit dem Schnabel zurecht. Während sie so saß und sich wohl tat, fragte sie: "Was macht mein Bruder Reginer?" Der Küchenjunge antwortete: "Liegt in der Grube gefangen bei Ottern und bei Schlangen." Fragte sie weiter: "Was macht die schwarze Hexe im Haus?" Der Küchenjunge antwortete: "Die sitzt warm, in des Königs Arm." Sagte die Ente: "Dass Gott erbarm!" und schwamm den Gossenstein hinaus.

Den folgenden Abend kam sie wieder und tat dieselben Fragen und den dritten Abend noch einmal. Da konnte es der Küchenjunge nicht länger über das Herz bringen, ging zu dem König und entdeckte ihm alles.

Der König aber wollte es selbst sehen, ging den andern Abend hin, und wie die Ente den Kopf durch den Gossenstein hereinstreckte, nahm er sein Schwert und hieb ihr den Hals durch, da ward sie auf einmal zum schönsten Mädchen, und glich genau dem Bild, das der Bruder von ihr gemacht hatte. Der König war voll Freuden; und weil sie ganz nass dastand, ließ er köstliche Kleider bringen und ließ sie damit bekleiden. Dann erzählte sie ihm, wie sie durch List und Falschheit wäre betrogen und zuletzt in den Fluss hinabgeworfen worden; und ihre erste Bitte war, dass ihr Bruder aus der Schlangenhöhle herausgeholt würde.

Und als der König diese Bitte erfüllt hatte, ging er in die Kammer, wo die alte Hexe saß, und fragte: "Was verdient die, welche das und das tut?" Und erzählte, was geschehen war. Da war sie so verblendet, dass sie nichts merkte und sprach: "Die verdient, dass man sie nackt auszieht und in ein Fass mit Nägeln legt, und dass man vor das Fass ein Pferd spannt und das Pferd in alle Welt schickt." Das geschah alles an ihr und ihrer schwarzen Tochter. Der König aber heiratete die weiße und schöne Braut und belohnte den treuen Bruder, indem er ihn zu einem reichen und angesehenen Mann machte.

Quelle: Brüder Grimm 

Sonntag, 17. Dezember 2023

Die Christrose – ein Hörspiel als Weihnachtsgeschenk!

Dieses weihnachtliche Hörspiel ist unser Geschenk an unsere treuen Leser, Zuschauer und Hörer, die uns und unsere Arbeit seit vielen Jahren begleiten.

„Die Christrose“ ist eine der schönsten Weihnachts-Erzählungen der weltberühmten schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf. Ihre seelenvollen Darstellungen, die Herz und Geist tief berühren, gehen unter die Haut.

Eva Herman hat diese außergewöhnliche Geschichte eingelesen, und unser Team hat daraus ein lebendiges Hörspiel gezaubert, das für Jung und Alt gleichermaßen berührend ist.

Die Werke der Schriftstellerin Selma Lagerlöf zählen zur Weltliteratur, 1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur, 1914 wurde Lagerlöf als erste Frau in die Schwedische Akademie aufgenommen.

Eines der populärsten Werke von Selma Lagerlöf ist das 1906/07 erschienene Buch Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. 

 

Samstag, 16. Dezember 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Der Löwe und der Frosch

Es war ein König und eine Königin, die hatten einen Sohn und eine Tochter, die hatten sie herzlich lieb. Der Prinz ging oft auf die Jagd und blieb manchmal lange Zeit draußen im Wald, einmal aber kam er gar nicht wieder. Darüber weinte sich seine Schwester fast blind, endlich, wie sie's nicht länger aushalten konnte, ging sie fort in den Wald und wollte ihren Bruder suchen. Als sie nun lange Wege gegangen war, konnte sie vor Müdigkeit nicht weiter, und wie sie sich umsah, da stand ein Löwe neben ihr, der tat ganz freundlich und sah so gut aus. Da setzte sie sich auf seinen Rücken, und der Löwe trug sie fort und streichelte sie immer mit seinem Schwanze und kühlte ihr die Backen. Als er nun ein gut Stück fortgelaufen war, kamen sie vor eine Höhle, da trug sie der Löwe hinein, und sie fürchtete sich nicht und wollte auch nicht herab springen, weil der Löwe so freundlich war. Also ging's durch die Höhle, die immer dunkler war und endlich ganz stockfinster, und als das ein Weilchen gedauert hatte, kamen sie wieder an das Tageslicht in einen wunderschönen Garten. Da war alles so frisch und glänzte in der Sonne, und mittendrin stand ein prächtiger Palast. Wie sie ans Tor kamen, hielt der Löwe, und die Prinzessin stieg von seinem Rücken herunter. Da fing der Löwe an zu sprechen und sagte: "In dem schönen Haus sollst du wohnen und mir dienen, und wenn du alles erfüllst, was ich fordere, so wirst du deinen Bruder wieder sehen."

Da diente die Prinzessin dem Löwen und gehorchte ihm in allen Stücken. Einmal ging sie in dem Garten spazieren, darin war es so schön, und doch war sie traurig, weil sie so allein und von aller Welt verlassen war. Wie sie so auf und ab ging, ward sie einen Teich gewahr, und auf der Mitte des Teichs war eine kleine Insel mit einem Zelt. Da sah sie, dass unter dem Zelt ein grasgrüner Laubfrosch saß, und hatte ein Rosenblatt auf dem Kopf statt einer Haube. Der Frosch guckte sie an und sprach: "Warum bist du so traurig?" "Ach", sagte sie, "warum sollte ich nicht traurig sein?" Und klagte ihm da recht ihre Not. Da sprach der Frosch ganz freundlich: "Wenn du was brauchst, so komm nur zu mir, so will ich dir mit Rat und Tat zur Hand gehen." "Wie soll ich dir das aber vergelten?" "Du brauchst mir nichts zu vergelten", sprach der Quakfrosch, "bring mir nur alle Tage ein frisches Rosenblatt zur Haube." Da ging nun die Prinzessin wieder zurück und war ein bisschen getröstet, und sooft der Löwe etwas verlangte, lief sie zum Teich, da sprang der Frosch herüber und hinüber und hatte ihr bald herbeigeschafft, was sie brauchte. 


Auf eine Zeit sagte der Löwe: "Heut Abend äß ich gern eine Mückenpastete, sie muss aber gut zubereitet sein." Da dachte die Prinzessin, wie soll ich die herbeischaffen, das ist mir ganz unmöglich, lief hinaus und klagte es ihrem Frosch. Der Frosch aber sprach: "Mach dir keine Sorgen, eine Mückenpastete will ich schon herbeischaffen." Darauf setzte er sich hin, sperrte rechts und links das Maul auf, schnappte zu und fing Mücken, soviel er brauchte. Darauf hüpfte er hin und her, trug Holzspäne zusammen und blies ein Feuer an. Wie's brannte, knetete er die Pastete und setzte sie über Kohlen, und es währte keine zwei Stunden, so war sie fertig und so gut, als einer nur wünschen konnte. Da sprach er zu dem Mädchen: "Die Pastete kriegst du aber nicht eher, als bis du mir versprichst, dem Löwen, sobald er eingeschlafen ist, den Kopf abzuschlagen mit einem Schwert, das hinter seinem Lager verborgen ist." "Nein", sagte sie, "das tue ich nicht, der Löwe ist doch immer gut gegen mich gewesen." Da sprach der Frosch: "Wenn du das nicht tust, wirst du nimmermehr deinen Bruder wieder sehen, und dem Löwen selber tust du auch kein Leid damit an." Da fasste sie Mut, nahm die Pastete und brachte sie dem Löwen. "Die sieht ja recht gut aus", sagte der Löwe, schnupperte daran und fing gleich an einzubeißen, aß sie auch ganz auf. 

Wie er nun fertig war, fühlte er eine Müdigkeit und wollte ein wenig schlafen; also sprach er zur Prinzessin: "Komm und setz dich neben mich und kraul mir ein bisschen hinter den Ohren, bis ich eingeschlafen bin." Da setzt sie sich neben ihn, krault ihn mit der Linken und sucht mit der Rechten nach dem Schwert, welches hinter seinem Bette liegt. Wie er nun eingeschlafen ist, so zieht sie es hervor, drückt die Augen zu und haut mit einem Streich dem Löwen den Kopf ab. 

Wie sie aber wieder hinblickt, da war der Löwe verschwunden, und ihr lieber Bruder stand neben ihr, der küsste sie herzlich und sprach: "Du hast mich erlöst, denn ich war der Löwe und war verwünscht, es so lang zu bleiben, bis eine Mädchenhand aus Liebe zu mir dem Löwen den Kopf abhauen würde." Darauf gingen sie miteinander in den Garten und wollten dem Frosch danken, wie sie aber ankamen, sahen sie, wie er nach allen Seiten herumhüpfte und kleine Späne suchte und ein Feuer anmachte. Als es nun recht hell brannte, hüpfte er selber hinein, und da brennt's noch ein bisschen, und dann geht das Feuer aus und steht ein schönes Mädchen da, das war auch verwünscht worden und die Liebste des Prinzen. Da ziehen sie miteinander heim zu dem alten König und der Frau Königin, und wird eine große Hochzeit gehalten, und wer dabei gewesen, der ist nicht hungrig nach Haus gegangen.

Quelle: Brüder Grimm

Samstag, 9. Dezember 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Der heilige Joseph im Walde

Es war einmal eine Mutter, die hatte drei Töchter, davon war die älteste unartig und bös, die zweite schon viel besser, obgleich sie auch ihre Fehler hatte, die jüngste aber war ein frommes gutes Kind. Die Mutter war aber so wunderlich, dass sie gerade die älteste Tochter am liebsten hatte und die jüngste nicht leiden konnte. Daher schickte sie das arme Mädchen oft hinaus in einen großen Wald, um es sich vom Hals zu schaffen, denn sie dachte, es würde sich verirren und nimmermehr wiederkommen. 

Aber der Schutzengel, den jedes fromme Kind hat, verließ es nicht, sondern brachte es immer wieder auf den rechten Weg. Einmal indessen tat das Schutzenglein, als wenn es nicht bei der Hand wäre, und das Kind konnte sich nicht wieder aus dem Walde herausfinden. Es ging immer fort, bis es Abend wurde, da sah es in der Ferne ein Lichtlein brennen, lief darauf zu und kam vor eine kleine Hütte. Es klopfte an, die Türe ging auf, und es gelangte zu einer zweiten Türe, wo es wieder anklopfte. Ein alter Mann, der einen schneeweißen Bart hatte und ehrwürdig aussah, machte ihm auf, und das war niemand anders als der heilige Joseph. Er sprach ganz freundlich "komm, liebes Kind, setze dich ans Feuer auf mein Stühlchen und wärme dich, ich will dir klar Wässerchen holen, wenn du Durst hast; zu essen aber hab ich hier im Walde nichts für dich als ein paar Würzelchen, die musst du dir erst schaben und kochen." 

Da reichte ihm der heilige Joseph die Wurzeln: das Mädchen schruppte sie säuberlich ab, dann holte es ein Stückchen Pfannkuchen und das Brot, das ihm seine Mutter mitgegeben hatte, und tat alles zusammen in einem Kesselchen aufs Feuer und kochte sich ein Mus. Als das fertig war, sprach der heilige Joseph "ich bin so hungrig, gib mir etwas von deinem Essen." Da war das Kind bereitwillig und gab ihm mehr, als es für sich behielt, doch war Gottes Segen dabei, dass es satt ward. Als sie nun gegessen hatten, sprach der heilige Joseph "nun wollen wir zu Bett gehen: ich habe aber nur ein Bett, lege du dich hinein, ich will mich ins Stroh auf die Erde legen." "Nein," antwortete es, "bleib du nur in deinem Bett, für mich ist das Stroh weich genug." Der heilige Joseph aber nahm das Kind auf den Arm und trug es ins Bettchen, da tat es sein Gebet und schlief ein. Am andern Morgen, als es aufwachte, wollte es dem heiligen Joseph guten Morgen sagen, aber es sah ihn nicht. Da stand es auf und suchte ihn, konnte ihn aber in keiner Ecke finden: endlich gewahrte es hinter der Tür einen Sack mit Geld, so schwer, als es ihn nur tragen konnte, darauf stand geschrieben, das wäre für das Kind, das heute nacht hier geschlafen hätte. Da nahm es den Sack und sprang damit fort und kam auch glücklich zu seiner Mutter, und weil es ihr alle das Geld schenkte, so konnte sie nicht anders, sie musste mit ihm zufrieden sein.

Am folgenden Tag bekam das zweite Kind auch Lust, in den Wald zu gehen. Die Mutter gab ihm ein viel größeres Stück Pfannkuchen und Brot mit. Es erging ihm nun gerade wie dem ersten Kinde. Abends kam es in das Hüttchen des heiligen Joseph, der ihm Wurzeln zu einem Mus reichte. Als das fertig war, sprach er gleichfalls zu ihm "ich bin so hungrig, gib mir etwas von deinem Essen." Da antwortete das Kind "iss als mit." Als ihm danach der heilige Joseph sein Bett anbot und sich aufs Stroh legen wollte, antwortete es "nein, leg dich als mit ins Bett, wir haben ja beide wohl Platz darin." Der heilige Joseph nahm es auf den Arm, legte es ins Bettchen und legte sich ins Stroh. Morgens, als das Kind aufwachte und den heiligen Joseph suchte, war er verschwunden, aber hinter der Türe fand es ein Säckchen mit Geld, das war händelang, und darauf stand geschrieben, es wäre für das Kind, das heute nacht hier geschlafen hätte. Da nahm es das Säckchen und lief damit heim, und brachte es seiner Mutter, doch behielt es heimlich ein paar Stücke für sich.

Nun war die älteste Tochter neugierig geworden und wollte den folgenden Morgen auch hinaus in den Wald. Die Mutter gab ihr Pfannkuchen mit, so viel sie wollte, Brot und auch Käse dazu. Abends fand sie den heiligen Joseph in seinem Hüttchen gerade so, wie ihn die zwei andern gefunden hatten. Als das Mus fertig war und der heilige Joseph sprach "ich bin so hungrig, gib mir etwas von deinem Essen," antwortete das Mädchen "warte, bis ich satt bin, was ich dann übrig lasse, das sollst du haben." Es aß aber beinah alles auf, und der heilige Joseph musste das Schüsselchen ausschruppen. 

Der gute Alte bot ihm hernach sein Bett an und wollte auf dem Stroh liegen, das nahm es ohne Widerrede an, legte sich in das Bettchen und ließ dem Greis das harte Stroh. Am andern Morgen, wie es aufwachte, war der heilige Joseph nicht zu finden, doch darüber machte es sich keine Sorgen: es suchte hinter der Türe nach einem Geldsack. Es kam ihm vor, als läge etwas auf der Erde, doch weil es nicht recht unterscheiden konnte, was es war, bückte es sich und stieß mit seiner Nase daran. Aber es blieb an der Nase hangen, und wie es sich aufrichtete, sah es zu seinem Schrecken, dass es noch eine zweite Nase war, die an der seinen fest hing. Da hub es an zu schreien und zu heulen, aber das half nichts, es musste immer auf seine Nase sehen, wie die so weit hinausstand. Da lief es in einem Geschrei fort, bis es dem heiligen Joseph begegnete, dem fiel es zu Füßen und bat so lange, bis er aus Mitleid ihm die Nase wieder abnahm und noch zwei Pfennige schenkte. 

Als es daheim ankam, stand vor der Türe seine Mutter und fragte "was hast du geschenkt kriegt?" Da log es und antwortete "einen großen Sack voll Gelds, aber ich habe ihn unterwegs verloren." "Verloren!, rief die Mutter, "o den wollen wir schon wiederfinden," nahm es bei der Hand und wollte mit ihm suchen. Zuerst fing es an zu weinen und wollte nicht mitgehen, endlich aber ging es mit, doch auf dem Wege kamen so viele Eidechsen und Schlangen auf sie beide los, dass sie sich nicht zu retten wussten, sie stachen auch endlich das böse Kind tot, und die Mutter stachen sie in den Fuß, weil sie es nicht besser erzogen hatte.

Quelle: Brüder Grimm 

Samstag, 2. Dezember 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Die drei Brüder

Es war ein Mann, der hatte drei Söhne und weiter nichts im Vermögen als das Haus, worin er wohnte. Nun hätte jeder gerne nach seinem Tode das Haus gehabt, dem Vater war aber einer so lieb als der andere, da wußte er nicht, wie ers anfangen sollte, daß er keinem zu nahe tät; verkaufen wollte er das Haus auch nicht, weils von seinen Voreltern war, sonst hätte er das Geld unter sie geteilt. Da fiel ihm endlich ein Rat ein, und er sprach zu seinen Söhnen 'geht in die Welt und versucht euch, und lerne jeder sein Handwerk, wenn ihr dann wiederkommt, wer das beste Meisterstück macht, der soll das Haus haben.'

Das waren die Söhne zufrieden, und der älteste wollte ein Hufschmied, der zweite ein Barbier, der dritte aber ein Fechtmeister werden. Darauf bestimmten sie eine Zeit, wo sie wieder nach Haus zusammenkommen wollten, und zogen fort. Es traf sich auch, daß jeder einen tüchtigen Meister fand, wo er was Rechtschaffenes lernte. Der Schmied mußte des Königs Pferde beschlagen und dachte 'nun kann dirs nicht fehlen, du kriegst das Haus.' Der Barbier rasierte lauter vornehme Herren und meinte auch, das Haus wäre schon sein. Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biß aber die Zähne zusammen und ließ sichs nicht verdrießen, denn er dachte bei sich 'fürchtest du dich vor einem Hieb, so kriegst du das Haus nimmermehr.' Als nun die gesetzte Zeit herum war, kamen sie bei ihrem Vater wieder zusammen: sie wußten aber nicht, wie sie die beste Gelegenheit finden sollten, ihre Kunst zu zeigen, saßen beisammen und ratschlagten. Wie sie so saßen, kam auf einmal ein Hase übers Feld dahergelaufen. 'Ei,' sagte der Barbier, 'der kommt wie gerufen,' nahm Becken und Seife, schäumte so lange, bis der Hase in die Nähe kam, dann seifte er ihn in vollem Laufe ein, und rasierte ihm auch in vollem Laufe ein Stutzbärtchen, und dabei schnitt er ihn nicht und tat ihm an keinem Haare weh. 'Das gefällt mir,' sagte der Vater, 'wenn sich die andern nicht gewaltig angreifen, so ist das Haus dein.' Es währte nicht lang, so kam ein Herr in einem Wagen dahergerennt in vollem Tagen 'Nun sollt Ihr sehen, Vater, was ich kann,' sprach der Hufschmied, sprang dem Wagen nach, riß dem Pferd, das in einem fortjagte, die vier Hufeisen ab und schlug ihm auch im Jagen vier neue wieder an. 'Du bist ein ganzer Kerl,' sprach der Vater, 'du machst deine Sachen so gut wie dein Bruder; ich weiß nicht, wem ich das Haus geben soll.' Da sprach der dritte 'Vater, laßt mich auch einmal gewähren,' und weil es anfing zu regnen, zog er seinen Degen und schwenkte ihn in Kreuzhieben über seinen Kopf, daß kein Tropfen auf ihn fiel: und als der Regen stärker ward, und endlich so stark, als ob man mit Mulden vom Himmel gösse, schwang er den Degen immer schneller und blieb so trocken, als säß er unter Dach und Fach. Wie der Vater das sah, erstaunte er und sprach 'du hast das beste Meisterstück gemacht, das Haus ist dein.'

Die beiden andern Brüder waren damit zufrieden, wie sie vorher gelobt hatten, und weil sie sich einander so lieb hatten, blieben sie alle drei zusammen im Haus und trieben ihr Handwerk; und da sie so gut ausgelernt hatten und so geschickt waren, verdienten sie viel Geld. So lebten sie vergnügt bis in ihr Alter zusammen, und als der eine krank ward und starb, grämten sich die zwei andern so sehr darüber, daß sie auch krank wurden und bald starben. Da wurden sie, weil sie so geschickt gewesen waren und sich so lieb gehabt hatten, alle drei zusammen in ein Grab gelegt.

Quelle: Gebrüder Grimm 

Samstag, 25. November 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Der erlöste Zwerg

Ein Taglöhner ging eines Morgens in einen Wald, um Holz zu sammeln. Da begegnete ihm ein Bettler, der mühselig auf Krücken einher humpelte und ihn fragte: »Wie weit ist es noch bis zum nächsten Dorf?«

Der Taglöhner antwortete: »Es ist wohl nur eine halbe Stunde, aber du wirst es vor einer Stunde nicht erreichen.«

Der Bettler dankte und fragte weiter: »Möchtest du mir nicht einen Dienst erweisen?«

»Recht gern, wenn ich nur nicht zuviel Zeit verliere, denn ich muss auf meinen Verdienst bedacht sein.«

»Das sei deine geringste Sorge«, erwiderte der Bettler. »Wenn du mir den Gefallen erweist, so sollst du Geld in Hülle und Fülle haben.«

»Und was kann ich für dich tun?« fragte der Taglöhner.

»Geh um Mitternacht«, sagte der Bettler, »dort auf jenen Felsen, der am Ende des Waldes sich erhebt, und klopfe da dreimal an die Erde. Dann wird ein Männlein erscheinen, das sollst du mit einem Stein töten; nimm dich aber dabei in Acht, denn wenn du das Männlein nicht gleich mit dem ersten Schlag tötest, so wird deine Bemühung fruchtlos sein. Du kannst dich übrigens beruhigen; befindest du dich in einer Gefahr, so brauchst du nur die Worte zu sagen:

‚Helft und kommt, wenn es mir frommt.’

Wiederholst du dies dreimal, so wird dir stets geholfen werden. Wenn du deinen Auftrag glücklich vollzogen hast, so kehre auf demselben Weg wieder zurück, und ein Pfiff wird dir kundtun, dass ich im Wald dir nahe bin. Das weitere wirst du erfahren.«

Der Taglöhner hatte zwar einige Bedenken, aber die Aussicht auf Gewinn machte ihm frohen Mut für den Weg. Er stieg auf eine Anhöhe und gewahrte ein Schloss. Das entzog sich aber seinen Blicken, und an dessen Stelle sah er eine blutrote Fahne, welche an einer hohen Stange wehte. Als er immer näher ging, verschwand die Fahne, und er befand sich vor demselben Schloss, das er früher erblickt hatte. Der Taglöhner trat hinein und setzte sich auf eine steinerne Bank im Vorhof, um zu sehen, was da kommen werde. Er bemerkte aber nichts und wollte aufstehen. Da fühlte er sich auf seinem Sitz festgehalten. In der Angst gedachte er des Sprüchleins und rief dreimal:

»Helft und kommt, wenn es mir frommt.«

Da erschien ein kleines Mädchen und sagte, er müsse ein Stück von der Bank abhauen, dann könne er loskommen. Darauf verschwand es.

Der Taglöhner hatte nichts als sein Taschenmesser bei sich. Als er mit diesem den ersten Stoß gegen den Stein versuchte, spaltete sich das Messer in zwei Teile, und aus jedem Teil wurde ein Ei. Das machte ihn unmutig, und er warf die Eier an die steinerne Bank. Sie blieben aber unversehrt, dagegen lag ein Stück von der Bank auf der Erde, und er konnte frei aufstehen.

Er steckte nun die wunderbaren Eier zu sich und ging in das Schloss hinauf, um zu sehen, wer denn darin wohne. Im ersten Stock sah er eine große Tür offen stehen, die zu einem geräumigen Saal führte. Mitten in demselben sah er einen Riesen an einer reich gedeckten Tafel sitzen. Als der Riese den Eintretenden erblickte, hieß er ihn willkommen und lud ihn ein, mitzuhalten. Verlegen setzte er sich zum Tisch. Der Riese war sehr gesprächig und erzählte ihm alle seine Abenteuer, wobei er sich seiner ungeheuren Stärke rühmte. Dabei wurde dem Gast sonderbar zumute. Er dachte hin und her, und es fiel ihm ein, dem gewaltigen Tischgenossen eines seiner Eier als Speise anzubieten. Indem er aber in die Tasche griff, prahlte der Riese wieder, dass er imstande sei, einen festen Schrank mit einem Schlag zu zertrümmern. Dabei hieb er um sich und traf den Kopf seines Gastes so stark, dass dieser bewusstlos zu Boden fiel.

Als er endlich wieder zu sich kam, befand er sich zu seinem Erstaunen nicht im Speisesaal des Riesen, sondern nahe bei jenem Felsen, wo er das Männlein töten sollte. Er wartete, bis die Sonne untergegangen war. Da vernahm er einen Gesang; der von Knaben- und Mädchenstimmen herzurühren schien. Der Gesang kam immer näher, und der Taglöhner trat in ein Gebüsch, um von dort aus die Vorüberziehenden zu belauschen. Da erschien ein Zug von Zwergen, hüpfend und singend. Unter ihnen war ein größerer, um welchen sich die kleinen fröhlich herumtummelten.

Das muss ihr König sein, dachte sich der Lauscher, und vielleicht ist's der, welchen ich um Mitternacht töten soll. Beherzt trat er hervor, ging auf den Zwergenkönig zu und redete ihn an: »Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu unterhandeln.« Der Zwerg gab einen Wink, und plötzlich verstummte der Gesang. Der Taglöhner führte ihn abseits und sagte: »Ich habe schon lange auf dich gewartet, weil ich dir mitzuteilen habe, dass ein böser Zauberer euch aus eurer Behausung vertreiben und all eure Schätze nehmen will.«

Der Zwerg wollte Näheres wissen, allein der Taglöhner entgegnete: »Für jetzt kann ich nichts mehr sagen, komm aber um Mitternacht zu jenem Felsen; ich werde dreimal klopfen, und dann erscheine ohne alle Begleitung.«

Der Zwergenkönig versprach, pünktlich zu kommen, und zog dann mit seiner munteren Gesellschaft weiter.

Der Taglöhner war nun in Verlegenheit, da er nicht wusste, wann gerade Mitternacht sein werde. Er sagte daher sein Sprüchlein dreimal her, und es erschien ein Knabe, der sprach: »Mitternacht ist, sobald du ein dumpfes Rauschen vernimmst.« Nicht lange war der Knabe verschwunden, als der Taglöhner ein eigentümliches Rauschen hörte. Da nahm er einen Stein, klopfte dreimal an den Boden und der Zwerg erschien.

Während dieser grüßte und um nähere Mitteilungen bat, versetzte ihm der Taglöhner einen solchen Hieb auf den Kopf, dass er tot niedersank. In dem Augenblick ertönte ein gellender Pfiff, und anstatt des erschlagenen Zwerges stand ein blühender Jüngling vor ihm, der nicht genug danken konnte für seine Erlösung. Um ihn standen eine Menge Edle und Knappen, welche gleich ihrem Herrn sich freuten.

Alle gingen nun den Berg hinab, und unterwegs erzählte der Jüngling folgendes: »Ich bin der Sohn eines Königs und samt meinem Gefolge in früher Jugend von einem bösen Zauberer geraubt worden. Nicht lange danach kam zu meinem betrübten Vater ein anderer Zauberer, der uns zu befreien versprach. Das war jener Bettler, welcher wusste, dass ich in einen Zwerg verwandelt war.«

So gingen sie eine Strecke des Weges miteinander und trafen im Wald statt des alten Bettlers den mächtigen Zauberer. Dieser begrüßte sie und führte alle an den königlichen Hof. Hocherfreut schenkte der König dem Taglöhner ein ungeheures Goldstück, dem der Zauberer noch die Eigenschaft verlieh, dass das Gold von niemand gestohlen werden konnte.

So wurde der arme Taglöhner ein reicher Mann.

Quelle: Theodor Vernaleken

Samstag, 18. November 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Der Hund und der Sperling

Ein Schäferhund hatte keinen guten Herrn, sondern einen, der ihn Hunger leiden ließ. Wie er's nicht länger bei ihm aushalten konnte, ging er ganz traurig fort. Auf der Straße begegnete ihm ein Sperling, der sprach "Bruder Hund, warum bist du so traurig?" Antwortete der Hund "ich bin hungrig und habe nichts zu fressen." Da sprach der Sperling "lieber Bruder, komm mit in die Stadt, so will ich dich satt machen." Also gingen sie zusammen in die Stadt, und als sie vor einen Fleischerladen kamen, sprach der Sperling zum Hunde "da bleib stehen, ich will dir ein Stück Fleisch herunterpicken," setzte sich auf den Laden, schaute sich um, ob ihn auch niemand bemerkte, und pickte, zog und zerrte so lang an einem Stück, das am Rande lag, bis es herunterrutschte. Da packte es der Hund, lief in eine Ecke und fraß es auf. Sprach der Sperling "nun komm mit zu einem andern Laden, da will ich dir noch ein Stück herunterholen, damit du satt wirst." Als der Hund auch das zweite Stück gefressen hatte, fragte der Sperling "Bruder Hund, bist du nun satt?" "Ja, Fleisch bin ich satt," antwortete er, "aber ich habe noch kein Brot gekriegt." Sprach der Sperling "das sollst du auch haben, komm nur mit." Da führte er ihn an einen Bäckerladen und pickte an ein paar Brötchen, bis sie herunterrollten, und als der Hund noch mehr wollte, führte er ihn zu einem andern und holte ihm noch einmal Brot herab. Wie das verzehrt war, sprach der Sperling "Bruder Hund, bist du nun satt?" "Ja," antwortete er, "nun wollen wir ein bisschen vor die Stadt gehen."

Da gingen sie beide hinaus auf die Landstraße. Es war aber warmes Wetter, und als sie ein Eckchen gegangen waren, sprach der Hund "ich bin müde und möchte gerne schlafen." "Ja, schlaf nur," antwortete der Sperling, "ich will mich derweil auf einen Zweig setzen." Der Hund legte sich also auf die Straße und schlief fest ein. Während er da lag und schlief, kam ein Fuhrmann herangefahren, der hatte einen Wagen mit drei Pferden, und hatte zwei Fässer Wein geladen. Der Sperling aber sah" dass er nicht ausbiegen wollte" sondern in der Fahrgleise blieb, in welcher der Hund lag, da rief er "Fuhrmann, tu es nicht, oder ich mache dich arm." Der Fuhrmann aber brummte vor sich "du wirst mich nicht arm machen," knallte mit der Peitsche und trieb den Wagen über den Hund, dass ihn die Räder totfuhren. 

Da rief der Sperling "du hast mir meinen Bruder Hund totgefahren, das soll dich Karre und Gaul kosten." "Ja, Karre und Gaul," sagte der Fuhrmann, "was könntest du mir schaden!" und fuhr weiter. Da kroch der Sperling unter das Wagentuch und pickte an dem einen Spundloch so lange, bis er den Spund losbrachte: da lief der ganze Wein heraus, ohne dass es der Fuhrmann merkte. Und als er einmal hinter sich blickte, sah er, dass der Wagen tröpfelte, untersuchte die Fässer und fand, dass eins leer war. "Ach, ich armer Mann!" rief er. "Noch nicht arm genug," sprach der Sperling und flog dem einen Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Als der Fuhrmann das sah, zog er seine Hacke heraus und wollte den Sperling treffen, aber der Sperling flog in die Höhe, und der Fuhrmann traf seinen Gaul auf den Kopf, dass er tot hinfiel. "Ach, ich armer Mann!" rief er. "Noch nicht arm genug," sprach der Sperling, und als der Fuhrmann mit den zwei Pferden weiterfuhr, kroch der Sperling wieder unter das Tuch und pickte den Spund auch am zweiten Fass los, dass aller Wein herausschwankte. Als es der Fuhrmann gewahr wurde, rief er wieder "ach, ich armer Mann!" aber der Sperling antwortete "noch nicht arm genug," setzte sich dem zweiten Pferd auf den Kopf und pickte ihm die Augen aus. Der Fuhrmann lief herbei und holte mit seiner Hacke aus, aber der Sperling flog in die Höhe, da traf der Schlag das Pferd, dass es hinfiel. "Ach, ich armer Mann!" "Noch nicht arm genug," sprach der Sperling, setzte sich auch dem dritten Pferd auf den Kopf und pickte ihm nach den Augen. Der Fuhrmann schlug in seinem Zorn, ohne umzusehen, auf den Sperling los, traf ihn aber nicht, sondern schlug auch sein drittes Pferd tot. "Ach, ich armer Mann!" rief er. "Noch nicht arm genug," antwortete der Sperling, "jetzt will ich dich daheim arm machen," und flog fort.

Der Fuhrmann musste den Wagen stehen lassen und ging voll Zorn und Arger heim. "Ach," sprach er zu seiner Frau, "was hab ich Unglück gehabt! der Wein ist ausgelaufen, und die Pferde sind alle drei tot." "Ach, Mann," antwortete sie, "was für ein böser Vogel ist ins Haus gekommen! er hat alle Vögel auf der Welt zusammengebracht, und die sind droben über unsern Weizen hergefallen und fressen ihn auf." Da stieg er hinauf, und tausend und tausend Vögel saßen auf dem Boden und hatten den Weizen aufgefressen, und der Sperling saß mitten darunter. Da rief der Fuhrmann "ach, ich armer Mann!" "Noch nicht arm genug," antwortete der Sperling, "Fuhrmann, es kostet dir noch dein Leben," und flog hinaus.

Da hatte der Fuhrmann all sein Gut verloren, ging hinab in die Stube, setzte sich hinter den Ofen und zwar ganz bös und giftig. Der Sperling aber saß draußen vor dem Fenster und rief "Fuhrmann, es kostet dir dein Leben." Da griff der Fuhrmann die Hacke und warf sie nach dem Sperling: aber er schlug nur die Fensterscheiben entzwei und traf den Vogel nicht. Der Sperling hüpfte nun herein, setzte sich auf den Ofen und rief "Fuhrmann, es kostet dir dein Leben." Dieser, ganz toll und blind vor Wut, schlägt den Ofen entzwei, und so fort, wie der Sperling von einem Ort zum andern fliegt, sein ganzes Hausgerät, Spieglein, Bänke, Tisch, und zuletzt die Wände seines Hauses, und kann ihn nicht treffen. Endlich aber erwischt er ihn doch mit der Hand. Da sprach seine Frau "soll ich ihn totschlagen?" "Nein," rief er, "das wäre zu gelind, der soll viel mörderlicher sterben, ich will ihn verschlingen," und nimmt ihn, und verschlingt ihn auf einmal. Der Sperling aber fängt an in seinem Leibe zu flattern, flattert wieder herauf, dem Mann in den Mund: da streckte er den Kopf heraus und ruft "Fuhrmann, es kostet dir doch dein Leben." Der Fuhrmann reicht seiner Frau die Hacke und spricht "Frau, schlag mir den Vogel im Munde tot." Die Frau schlägt zu, schlägt aber fehl, und schlägt dem Fuhrmann gerade auf den Kopf, so dass er tot hinfällt. Der Sperling aber fliegt auf und davon.

Quelle: Brüder Grimm 

Samstag, 11. November 2023

Ein Märchen zum Wochenende

Der alte Sultan

Es hatte ein Bauer einen treuen Hund, der Sultan hieß, der war alt geworden und hatte alle Zähne verloren, so dass er nichts mehr fest packen konnte. Zu einer Zeit stand der Bauer mit seiner Frau vor der Haustüre und sprach: "Den alten Sultan schieß ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze." Die Frau, die Mitleid mit dem treuen Tiere hatte, antwortete: "Da er uns so lange Jahre gedient hat und ehrlich bei uns gehalten, so könnten wir ihm wohl das Gnadenbrot geben." "Ei was", sagte der Mann, "du bist nicht recht gescheit; er hat keinen Zahn mehr im Maul, und kein Dieb fürchtet sich vor ihm, er kann jetzt abgehen. Hat er uns gedient, so hat er sein gutes Fressen dafür gekriegt."

Der arme Hund, der nicht weit davon in der Sonne ausgestreckt lag, hatte alles mit angehört und war traurig, dass morgen sein letzter Tag sein sollte. Er hatte einen guten Freund, das war der Wolf, zu dem schlich er abends hinaus in den Wald und klagte über das Schicksal, das ihm bevorstände. "Höre, Gevatter", sagte der Wolf, "sei guten Mutes, ich will dir aus deiner Not helfen. Ich habe etwas ausgedacht. Morgen in aller Frühe geht dein Herr mit seiner Frau ins Heu, und sie nehmen ihr kleines Kind mit, weil niemand im Hause zurückbleibt. Sie pflegen das Kind während der Arbeit hinter die Hecke in den Schatten zu legen. Lege dich daneben, gleich als wolltest du es bewachen. Ich will dann aus dem Walde herauskommen und das Kind rauben, du musst mir eifrig nachspringen, als wolltest du mir es wieder abjagen. Ich lasse es fallen, und du bringst es den Eltern wieder zurück, die glauben dann, du hättest es gerettet, und sind viel zu dankbar, als dass sie dir ein Leid antun sollten; im Gegenteil, du kommst in völlige Gnade, und sie werden es dir an nichts mehr fehlen lassen."

Der Anschlag gefiel dem Hund, und wie er ausgedacht war, so ward er auch ausgeführt. Der Vater schrie, als er den Wolf mit seinem Kinde durchs Feld laufen sah; als es aber der alte Sultan zurückbrachte, da war er froh, streichelte ihn und sagte: "Dir soll kein Härchen gekrümmt werden, du sollst das Gnadenbrot essen, solange du lebst." Zu seiner Frau aber sprach er: "Geh gleich heim und koche dem alten Sultan einen Weckbrei, den braucht er nicht zu beißen, und bring das Kopfkissen aus meinem Bette, das schenk ich ihm zu seinem Lager." Von nun an hatte es der alte Sultan so gut, als er sich's nur wünschen konnte. Bald hernach besuchte ihn der Wolf und freute sich, dass alles so wohl gelungen war. "Aber, Gevatter", sagte er, "du wirst doch ein Auge zudrücken, wenn ich bei Gelegenheit deinem Herrn ein fettes Schaf weghole. Es wird einem heutzutage schwer, sich durchzuschlagen." "Darauf rechne nicht", antwortete der Hund, "meinem Herrn bleibe ich treu, das darf ich nicht zugeben!" Der Wolf meinte, das wäre nicht im Ernste gesprochen, kam in der Nacht herangeschlichen und wollte sich das Schaf holen. Aber der Bauer, dem der treue Sultan das Vorhaben des Wolfes verraten hatte, passte ihm auf und kämmte ihm mit dem Dreschflegel garstig die Haare. Der Wolf musste ausreißen, schrie aber dem Hund zu: "Wart, du schlechter Geselle, dafür sollst du büßen!"

Am andern Morgen schickte der Wolf das Schwein und ließ den Hund hinaus in den Wald fordern, da wollten sie ihre Sache ausmachen. Der alte Sultan konnte keinen Beistand finden als eine Katze, die nur drei Beine hatte, und als sie zusammen hinausgingen, humpelte die arme Katze daher und streckte zugleich vor Schmerz den Schwanz in die Höhe. Der Wolf und sein Beistand waren schon an Ort und Stelle, als sie aber ihren Gegner daherkommen sahen, meinten sie, er führte einen Säbel mit sich, weil sie den aufgerichteten Schwanz der Katze dafür ansahen. Und wenn das arme Tier so auf drei Beinen hüpfte, dachten sie nichts anders, als es höbe jedes Mal einen Stein auf, wollte damit auf sie werfen. Da ward ihnen beiden angst: Das wilde Schwein verkroch sich ins Laub, und der Wolf sprang auf einen Baum. Der Hund und die Katze, als sie herankamen, wunderten sich, dass sich niemand sehen ließ. Das wilde Schwein aber hatte sich im Laub nicht ganz verstecken können, sondern die Ohren ragten noch heraus. Während die Katze sich bedächtig umschaute, zwinste das Schwein mit den Ohren; die Katze, welche meinte, es regte sich da eine Maus, sprang darauf zu und biss herzhaft hinein. Da erhob sich das Schwein mit großem Geschrei, lief fort und rief: "Dort auf dem Baum, da sitzt der Schuldige." Der Hund und die Katze schauten hinauf und erblickten den Wolf, der schämte sich, dass er sich so furchtsam gezeigt hatte, und nahm von dem Hund den Frieden an.

Quelle: Brüder Grimm