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Samstag, 1. Juni 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen. Und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: „Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!“ Wenn nun etwas zu tun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten; hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl: „Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir!“ denn er fürchtete sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: „Ach, es gruselt mir!“ Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte. „Immer sagen sie, es gruselt mir! Mir gruselt’s nicht, das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe.“

Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach: „Hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du mußt auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie dein Bruder sich Mühe gibt, aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.“—“Ei, Vater“, antwortete er, „ich will gerne was lernen; ja, wenn’s anginge, so möchte ich lernen, daß mir’s gruselte.“ Der älteste lachte, als er das hörte, und dachte bei sich: ,Du lieber Gott, was ist mein Bruder ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag nichts, was ein Häkchen werden will, muß sich beizeiten krümmen.‘ Der Vater seufzte und antwortete ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon lernen, aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.

Bald danach kam der Küster zu Besuch ins Haus, da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts. „Denkt Euch, als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.“—“Wenn’s weiter nichts ist“, antwortete der Küster, „das kann er bei mir lernen; tut ihn nur zu mir, ich will ihn schon abhobeln.“ Der Vater war es zufrieden, weil er dachte: ,Der Junge wird doch ein wenig zugestutzt.‘ Der Küster nahm ihn also ins Haus, und er mußte die Glocke läuten. Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den Kirchturm steigen und läuten. ,Du sollst schon lernen, was Gruseln ist‘, dachte er, ging heimlich voraus, und als der Junge oben war und sich umdrehte und das Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der Treppe, dem Schalloch gegenüber eine weiße Gestalt stehen. „Wer da?“ rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. „Gib Antwort“, rief der Junge, „oder mache, daß du fortkommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen.“ Der Küster aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge glauben sollte, es wäre ein Gespenst. Der Junge rief zum zweitenmal: „Was willst du hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe dich die Treppe hinab!“ Der Küster dachte: ,Das wird so schlimm nicht gemeint sein‘, gab keinen Laut von sich und stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief ihn der Junge zum dritten Male an, und als das auch vergeblich war, nahm er einen Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, daß es in einer Ecke liegenblieb. Darauf läutete er die Glocke, ging heim, legte sich ins Bett und schlief fort. Die Küsterfrau wartete lange Zeit auf ihren Mann, aber er wollte nicht wiederkommen. Da ward ihr endlich angst, sie weckte den Jungen und fragte: „Weißt du nicht, wo mein Mann geblieben ist? Er ist vor dir auf den Turm gestiegen.“—“Nein“, antwortete der Junge, „aber da hat einer dem Schalloch gegenüber auf der Treppe gestanden, und weil er keine Antwort geben und auch nicht weggehen wollte, so habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten und hinuntergestoßen. Geht nur hin, so werdet Ihr sehen, ob er’s gewesen ist, es sollte mir leid tun.“ Die Frau sprang fort und fand ihren Mann, der in einer Ecke lag und ein Bein gebrochen hatte.

Sie trug ihn herab und eilte dann mit lautem Geschrei zu dem Vater des Jungen. „Euer Junge“, rief sie, „hat ein großes Unglück angerichtet, meinen Mann hat er die Treppe hinabgeworfen, daß er ein Bein gebrochen hat, schafft den Taugenichts aus unserm Hause.“ Der Vater erschrak, kam herbeigelaufen und schalt den Jungen aus. „Was sind das für gottlose Streiche, die muß dir der Böse eingegeben haben.“—“Vater“, antwortete er, „hört nur an, ich bin ganz unschuldig; er stand da in der Nacht wie einer, der Böses im Sinne hat. Ich wußte nicht, wer’s war, und habe ihn dreimal ermahnt zu reden oder wegzugehen.“—“Ach“, sprach der Vater, „mit dir erleb‘ ich nur Unglück, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr ansehen.“—“Ja, Vater, recht gerne, wartet nur, bis Tag ist, da will ich ausgehen und das Gruseln lernen, so versteh‘ ich doch eine Kunst, die mich ernähren kann.“— „Lerne, was du willst“, sprach der Vater, „mir ist alles einerlei. Da hast du fünfzig Taler, damit geh in die weite Welt und sage keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist; denn ich muß mich deiner schämen.“ —“Ja, Vater, wie Ihr’s haben wollt, wenn Ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in acht behalten.“

Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine fünfzig Taler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: „Wenn mir’s nur gruselte! Wenn mir’s nur gruselte!“ Da kam ein Mann heran, der hörte, was der Junge sprach, und als sie ein Stück weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte der Mann zu ihm: „Siehst du, dort ist der Baum, wo siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben und jetzt das Fliegen lernen. Setz dich darunter und warte, bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen.“—“Wenn weiter nichts dazugehört“, antwortete der Junge, „das ist leicht getan: lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine fünfzig Taler haben, komm nur morgen früh wieder zu mir.“ Da ging der Junge zu dem Galgen, setzte sich darunter und wartete, bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an, aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegeneinander stieß, daß sie sich hin und her bewegten, so dachte er: ,Du frierst unten beim Feuer, was mögen die da oben erst frieren und zappeln!‘ Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los und holte sie alle siebene herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es an und setzte sie ringsherum, daß sie sich wärmen sollten. Aber sie saßen da und regten sich nicht, und das Feuer ergriff ihre Kleider. Da sprach er: „Nehmt euch in acht, sonst häng‘ ich euch wieder hinauf.“ Die Toten aber hörten nicht, schwiegen und ließen ihre Lumpen fort brennen. Da ward er bös und sprach: „Wenn ihr nicht achtgeben wollt, so kann ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euch verbrennen“, und hing sie nach der Reihe wieder hinauf. Nun setzte er sich zu seinem Feuer und schlief ein, und am andern Morgen, da kam der Mann zu ihm, wollte die fünfzig Taler haben und spra ch: „Nun, weißt du, was Gruseln ist?“—“Nein“, antwortete er, „woher sollte ich’s wissen? Die da droben haben das Maul nicht aufgetan und waren so dumm, daß sie die paar alten Lappen, die sie am Leibe haben, brennen ließen.“ Da sah der Mann, daß er die fünfzig Taler heute nicht davontragen würde, ging fort und sprach: „So einer ist mir noch nicht vorgekommen.“

Der Junge ging auch seines Weges und fing wieder an, vor sich hin zu reden: „Ach, wenn mir’s nur gruselte! Ach, wenn mir’s nur gruselte!“ Das hörte ein Fuhrmann, der hinter ihm herschritt, und fragte: „Wer bist du?“—“Ich weiß nicht“, antwortete der Junge. Der Fuhrmann fragte weiter: „Wo bist du her?“—“Ich weiß nicht.“—“Wer ist dein Vater?“—“Das darf ich nicht sagen.“—“Was brummst du beständig in den Bart hinein?“—“Ei“, antwortete der Junge“, ich wollte, daß mir’s gruselte, aber niemand kann mich’s lehren.“—“Laß dein dummes Geschwätz“, sprach der Fuhrmann, „komm, geh mit mir, ich will sehen, daß ich dich unterbringe.“ Der Junge ging mit dem Fuhrmann, und abends gelangten sie zu einem Wirtshaus, wo sie übernachten wollten. Da sprach er beim Eintritt in die Stube wieder ganz laut: „Wenn mir’s nur gruselte! Wenn mir’s nur gruselte!“ Der Wirt, der das hörte, lachte und sprach: „Wenn dich danach lüstet, dazu sollte hier wohl Gelegenheit sein.“—“Ach, schweig stille“, sprach die Wirtsfrau“, so mancher Vorwitzige hat schon sein Leben eingebüßt, schade um die schönen Augen, wenn die das Tageslicht nicht wieder sehen sollten.“ Der Junge aber sagte: „Wenn’s noch so schwer wäre, ich will’s einmal lernen.“ Er ließ dem Wirt auch keine Ruhe, bis dieser erzählte, nicht weit davon stünde ein verwünschtes Schloß, wo einer wohl lernen könnte, was Gruseln wäre, wenn er nur drei Nächte darin wachen wollte. Der König hätte dem, der’s wagen wollte, seine Tochter zur Frau versprochen, und die wäre die schönste Jungfrau, welche die Sonne beschien. In dem Schlosse steckten auch große Schätze, von bösen Geistern bewacht, die würden dann frei und könnten einen Armen reich genug machen. Da ging der Junge am andern Morgen vor den König und sprach: „Wenn’s erlaubt wäre, so wollte ich wohl drei Nächte in dem verwünschten Schlosse wachen.“ Der König sah ihn an, und weil er ihm gefiel, sprach er: „Du darfst dir noch dreierlei ausbitten, aber es müssen leblose Dinge sein, und die darfst du mit ins Schloß nehmen.“ Da antwortete er: „So bitt‘ ich um ein Feuer, eine Drehbank und eine Schnitzbank mit dem Messer.“

Der König ließ ihm das alles bei Tage in das Schloß tragen. Als es Nacht werden wollte, ging der Junge hinauf, machte sich in einer Kammer ein helles Feuer an, stellte die Schnitzbank mit dem Messer daneben und setzte sich auf die Drehbank. „Ach, wenn mir’s nur gruselte!“ sprach er, „aber hier werde ich’s auch nicht lernen.“ Gegen Mitternacht wollte er sich sein Feuer einmal aufschüren, wie er so hineinblies, da schrie’s plötzlich aus einer Ecke: „Au, miau! Was uns friert!“—“Ihr Narren“, rief er, „was schreit ihr? Wenn euch friert, kommt, setzt euch ans Feuer und wärmt euch.“ Und wie er das gesagt hatte, kamen zwei große schwarze Katzen in einem gewaltigen Sprunge herbei, setzten sich ihm zu beiden Seiten und sahen ihn mit ihren feurigen Augen ganz wild an. Über ein Weilchen, als sie sich gewärmt hatten, sprachen sie: „Kamerad, wollen wir eins in der Karte spielen?“—“Warum nicht?“ antwortete er, „aber zeigt einmal eure Pfoten her!“ Da streckten sie die Krallen aus. „Ei“, sagte er, „was habt ihr lange Nägel! Wartet, die muß ich euch erst abschneiden.“ Damit packte er sie beim Kragen, hob sie auf die Schnitzbank und schraubte ihnen die Pfoten fest. „Euch habe ich auf die Finger gesehen“, sprach er, “da vergeht mir die Lust zum Kartenspiel“, schlug sie tot und warf sie hinaus ins Wasser. Als er aber die zwei zur Ruhe gebracht hatte, da kamen aus allen Ecken und Enden schwarze Katzen und schwarze Hunde an glühenden Ketten, immer mehr und mehr, daß er sich nicht mehr bergen konnte. Die schrien greulich, traten ihm auf sein Feuer, zerrten es auseinander und wollten es ausmachen. Das sah er ein Weilchen ruhig mit an, als es ihm aber zu arg ward, faßte er sein Schnitzmesser und rief: „Fort mit dir, du Gesindel!“ und haute auf sie los. Ein Teil sprang weg, die andern schlug er tot und warf sie hinaus in den Teich. Als er wiedergekommen war, blies er aus den Funken sein Feuer frisch an und wärmte sich. Und als er so saß, wollten ihm die Augen nicht länger offen bleiben, und er bekam Lust zu schlafen. Da blickte er um sich und sah in der Ecke ein großes Bett. „Das ist mir eben recht“, sprach er und legte sich hinein. Als er aber die Augen zutun wollte, so fing das Bett von selbst an zu fahren und fuhr im ganzen Schloß herum. „Recht so“, sprach er, „nur besser zu.“ Da rollte das Bett fort, als wären sechs Pferde vorgespannt, über Schwellen und Treppen auf und ab. Auf einmal, hopp hopp, fiel es um, das Unterste zu oberst, daß es wie ein Berg auf ihm lag. Aber er schleuderte Decken und Kissen in die Höhe, stieg heraus und sagte: „Nun mag fahren, wer Lust hat“, legte sich an sein Feuer und schlief, bis es Tag war. Am Morgen kam der König, und als er ihn da auf der Erde liegen sah, meinte er, er wäre tot. Da sprach er: „Es ist doch schade um den schönen Menschen.“ Das hörte der Junge, richtete sich auf und sprach: „So weit ist’s noch nicht!“ Da wunderte sich der König, freute sich aber und fragte, wie es ihm gegangen wäre. „Recht gut“, antwortete er, „eine Nacht wäre herum, die zwei andern werden auch herumgehen.“ Als er zum Wirt kam, da machte der große Augen. „Ich dachte nicht“, sprach er, „daß ich dich wieder lebendig sehen würde; hast du nun gelernt, was Gruseln ist?“—“Nein“, sagte er, „es ist alles vergeblich, wenn mir’s nur einer sagen könnte!“

Die zweite Nacht ging er abermals hinauf ins alte Schloß, setzte sich zum Feuer und fing sein altes Lied wieder an: „Wenn mir’s nur gruselte!“ Wie Mitternacht herankam, ließ sich ein Lärm und Gepolter hören, erst sachte, dann immer stärker, dann war’s ein bißchen still, endlich kam mit lautem Geschrei ein halber Mensch den Schornstein herab und fiel vor ihn hin. „Heda!“ rief er“, noch ein halber gehört dazu, das ist zu wenig.“ Da ging der Lärm von frischem an, es tobte und heulte, und da fiel die andere Hälfte auch herab. „Wart“, sprach er, „ich will dir erst das Feuer ein wenig anblasen.“ Wie er das getan hatte und sich wieder umsah, da waren die beiden Stücke zusammengefahren, und da saß ein greulicher Mann auf seinem Platz. „So haben wir nicht gewettet“, sprach der Junge, „die Bank ist mein.“ Der Mann wollte ihn wegdrängen, aber der Junge ließ sich’s nicht gefallen, schob ihn mit Gewalt weg und setzte sich wieder auf seinen Platz. Da fielen noch mehr Männer herab, einer nach dem andern, die holten neun Totenbeine und zwei Totenköpfe, setzten auf und spielten Kegel. Der Junge bekam auch Lust und fragte: „Hört ihr, kann ich mittun?“

„Ja, wenn du Geld hast.“ — „Geld genug“, antwortete er, „aber eure Kugeln sind nicht recht rund.“ Da nahm er die Totenköpfe, setzte sie in die Drehbank und drehte sie rund. „So, jetzt werden sie besser schüppeln“, sprach er, „heida, nun geht’s lustig!“ Er spielte mit und verlor etwas von seinem Geld, als es aber zwölf Uhr schlug, war alles vor seinen Augen verschwunden. Er legte sich nieder und schlief ruhig ein. Am andern Morgen kam der König und wollte sich erkundigen. „Wie ist dir’s diesmal gegangen?“ fragte er.— „Ich habe gekegelt“, antwortete er, „und ein paar Heller verloren.“—“Hat dir denn nicht gegruselt?“—“Ei was“, sprach er, „lustig hab‘ ich mich gemacht. Wenn ich nur wüßte, was Gruseln wäre!“

In der dritten Nacht setzte er sich wieder auf seine Bank und sprach ganz verdrießlich: „Wenn es mir nur gruselte!“ Als es spät ward, kamen sechs große Männer und brachten eine Totenlade hereingetragen. Da sprach er: „Ha, ha, das ist gewiß mein Vetterchen, das erst vor ein paar Tagen gestorben ist, winkte mit dem Finger und rief: „Komm, Vetterchen, komm!“ Sie stellten den Sarg auf die Erde, er aber ging hinzu und nahm den Deckel ab, da lag ein toter Mann darin. Er fühlte ihm ans Gesicht, aber es war kalt wie Eis. „Wart“, sprach er, „ich will dich ein bißchen wärmen“, ging ans Feuer, wärmte seine Hand und legte sie ihm aufs Gesicht, aber der Tote blieb kalt. Nun nahm er ihn heraus, setzte ihn ans Feuer und rieb ihm die Arme, damit das Blut wieder in Bewegung kommen sollte. Als auch das nichts helfen wollte, fiel ihm ein: ‚Wenn zwei zusammen im Bett liegen, so wärmen sie sich‘, brachte ihn ins Bett, deckte ihn zu und legte sich neben ihn. Über ein Weilchen ward auch der Tote warm und fing an, sich zu regen. Da sprach der Junge: „Siehst du, Vetterchen, hätt‘ ich dich nicht gewärmt!“ Der Tote aber hub an zu sprechen: “ Jetzt will ich dich erwürgen.“ — „Was“, sagte er, „ist das der Dank? Gleich sollst du wieder in deinen Sarg“, hob ihn auf, warf ihn hinein und machte den Deckel zu; da kamen die sechs Männer und trugen ihn wieder fort. „Es will mir nicht gruseln“, sagte er, „hier lerne ich’s mein Lebtag nicht.“

Da trat ein Mann herein, der war größer als alle anderen und sah fürchterlich aus; er war aber alt und hatte einen langen weißen Bart. „O du Wicht“, rief er, „nun sollst du bald lernen, was Gruseln ist; denn du sollst sterben.“—“Nicht so schnell“, antwortete der Junge, „soll ich sterben, so muß ich auch dabeisein.“ „Dich will ich schon packen“, sprach der Unhold.— „Sachte, sachte, mach dich nicht so breit; so stark wie du bin ich auch.“— „Das wollen wir sehn“, sprach der Alte, „bist du stärker als ich, so will ich dich gehen lassen; komm, wir wollen’s versuchen.“ Da führte er ihn durch dunkle Gänge zu einem Schmiedefeuer, nahm eine Axt und schlug den einen Amboß mit einem Schlag in die Erde. „Das kann ich noch besser, sprach der Junge und ging zu dem andern Amboß. Der Alte stellte sich nebenhin und wollte zusehen, und sein weißer Bart hing herab. Da faßte der Junge die Axt, spaltete den Amboß auf einen Hieb und klemmte den Bart des Alten mit hinein. „Nun hab‘ ich dich“, sprach der Junge, „jetzt ist das Sterben an dir.“ Dann faßte er eine Eisenstange und schlug auf den Alten los, bis er wimmerte, und bat, er möchte aufhören, er wollte ihm große Reichtümer geben. Der Junge zog die Axt ‚raus und ließ ihn los. Der Alte führte ihn wieder ins Schloß zurück und zeigte ihm in einem Keller drei Kasten voll Gold. „Davon“, sprach er, „ist ein Teil den Armen, der andere dem König, der dritte dein.“ Indem schlug es zwölfe, und der Geist verschwand. Am andern Morgen kam der König und sagte: „Nun wirst du gelernt haben, was Gruseln ist!“ —“Nein“, antwortete er, „was ist’s nur? Mein toter Vetter war da, und ein bärtiger Mann ist gekommen, der hat mir da unten viel Geld gezeigt, aber was Gruseln ist, hat mir keiner gesagt.“ Da sprach der König: „Du hast das Schloß erlöst und sollst meine Tochter heiraten.“

Da ward das Gold heraufgebracht und die Hochzeit gefeiert, aber der junge König, so lieb er seine Gemahlin hatte und so vergnügt er war, sagte doch immer: „Wenn mir nur gruselte, wenn mir nur gruselte!“ Das verdroß sie endlich. Ihr Kammermädchen sprach: „Ich will Hilfe schaffen, das Gruseln soll er schon lernen.“ Sie ging hinaus zum Bach, der durch den Garten floß, und ließ sich einen ganzen Eimer voll Gründlinge holen. Nachts, als der junge König schlief, mußte seine Gemahlin ihm die Decke wegziehen und den Eimer voll kaltem Wasser mit den Gründlingen über ihn herschütten, daß die kleinen Fische um ihn herum zappelten. Da wachte er auf und rief: „Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist.“

Quelle: Gebrüder Grimm 

Samstag, 25. Mai 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Die schöne Rosenblüte

Ein König hatte vier Kinder, drei Mädchen und einen Knaben, und dieser sollte später einmal den Thron erben. Eines Tages sagte der König zum Prinzen: „Lieber Sohn, ich habe beschlossen, deine Schwestern mit dem erstbesten Manne zu verheiraten, der um zwölf Uhr mittags an unserem Palaste vorübergeht.“ Nun kam um die Mittagsstunde zuerst ein Schweinehirt, dann ein Jäger und zum Schluss ein Totengräber vorüber. Der König rief alle drei herauf und sagte zum Schweinehirten, er wolle ihm seine älteste Tochter zur Frau geben, dem Jäger die zweite und die dritte dem Totengräber. Die Armen glaubten zu träumen. Doch sie merkten gar bald, dass der König nicht scherzte, sondern es ihnen in vollem Ernst befahl. Da antworteten sie verwirrt, aber erfreut: „Majestät, Euer Wille geschehe!“

Allein der Prinz, der besonders die jüngste Schwester zärtlich liebte, wollte an der Hochzeit nicht teilnehmen und ging in den Garten hinunter, der sich zu Füßen des Palastes ausdehnte. Und als nun der Priester im Hochzeitssaal die drei Schwestern segnete, erblühten auf einmal die schönsten Blumen im Garten, und aus einer weißen Wolke ertönte eine Stimme, die sprach: „Glücklich, wer einen Kuss von den Lippen der schönen Rosenblüte empfängt.“ Den Prinzen überfiel ein Zittern, dass er sich kaum aufrecht halten konnte; er lehnte sich an einen Olivenbaum und weinte, weil er seine Schwestern verloren hatte, und blieb so viele Stunden in Gedanken versunken. Dann aber schüttelte er sich wie nach einem Traum und sprach zu sich selber: ‚Ich muss in die weite Welt ziehen und werde nicht ruhen, als bis ich einen Kuss von der schönen Rosenblüte erhalten habe.‘

So zieht er und wandert dahin über Länder und Meere, über Berg und Tal, ohne je einem Menschen zu begegnen, der ihm Nachricht von der schönen Rosenblüte zu geben vermöchte. Drei Jahre sind seit seinem Auszug verflossen, da kommt er eines Tages aus einem Wald und schreitet ein schönes Tal entlang. Plötzlich steht er vor einem Palast, vor dem ein Brunnen springt, und da er durstig ist, beugt er sich nieder, um zu trinken.

Ein zweijähriges Kind, das neben dem Brunnen spielt, hat ihn kommen sehen; es beginnt zu weinen und ruft die Mutter. Als jedoch die Mutter den Prinzen erblickt, läuft sie ihm entgegen, schließt ihn in die Arme und küsst ihn mit den Worten: „Willkommen, schön willkommen, Bruder mein!“ Im ersten Augenblick hatte der Prinz sie nicht erkannt, aber als er sie näher betrachtete, erkannte er seine älteste Schwester wieder, umarmte sie innig und rief: „Welch glückliches Wiedersehen, Schwester mein“, und der Freude war kein Ende. Die Schwester lud ihn in den Palast ein, der ihr gehörte, und führte ihn zu ihrem Gatten, der ihn freundlich begrüßte. Und alle drei küssten voller Liebe das Kind, welches die Ursache für all die Freude war, weil es die Mutter gerufen hatte.

Darauf erkundigte sich der Prinz nach den beiden andern Schwestern und erfuhr vom Schwager, es gehe ihnen gut und sie führten ein herrschaftliches Leben. Darüber wunderte er sich nicht wenig: doch der Schwager berichtete ihm, sein und der andern Schwäger Schicksal habe sich gewandelt, nachdem sie von einem Zauberer verzaubert worden seien. „Und könnte ich meine andern Schwestern nicht auch besuchen?“ fragte der Prinz. Der Schwager erwiderte: „Wenn du immer in der Richtung gen Sonnenaufgang wanderst, kommst du nach einem Tag zu deiner zweiten und nach zwei Tagen zu deiner jüngsten Schwester.“ – „Aber ich muss den Weg wählen, der zu der schönen Rosenblüte führt, und ich weiß nicht, muss ich dem Aufgang oder dem Untergang der Sonne entgegengehen?“ – „Dem Sonnenaufgang natürlich; und das Glück ist dir doppelt hold: Einmal siehst du deine Schwestern wieder, und zum andern kannst du von der Jüngsten auch etwas über die schöne Rosenblüte erfahren. Bevor du jedoch von uns scheidest, möchte ich dir ein kleines Andenken überreichen.

Nimm diese Schweinsborsten. Solltest du in eine Gefahr geraten, aus der du dich allein nicht befreien kannst, so wirf die Borsten auf die Erde, und sie werden dir Hilfe bringen!“

Der Prinz steckte die Borsten ein, und nachdem er dem Schwager herzlich gedankt hatte, begab er sich wieder auf die Reise. Am Tage darauf gelangte er zum Palast der zweiten Schwester, wo man ihn mit großem Jubel empfing. Und auch dieser Schwager wollte ihm vor seiner Abreise ein Andenken geben, und da er Jäger gewesen war, schenkte er ihm einen Strauß Vogelfedern, wobei er ihm das gleiche sagte wie der erste Schwager. Der Prinz aber bedankte sich und zog seines Weges.

So gelangte er am dritten Tage zu seiner jüngsten Schwester. Sie nahm ihren Bruder, der sie von allen Schwestern am meisten geliebt hatte, mit noch größerer Freude und Zärtlichkeit auf als die andern, und ebenso tat ihr Mann. Dieser schenkte ihm zum Abschied einen Totenknöchel, indem er ihm den gleichen Rat gab wie die andern Schwäger. Die Schwester sagte ihm noch, die schöne Rosenblüte wohne eine Tagereise entfernt, er solle sich aber genauere Auskunft bei einem alten Weibe holen, dem sie früher einmal Gutes getan hatte. Und sie schickte ihn auf den Weg zu der Alten. Kaum war der Prinz am Wohnort der schönen Rosenblüte angelangt, welche die Tochter des Königs war, so lenkte er seine Schritte zu der Alten. Als diese hörte, er sei der Bruder der Dame, die ihr so viele Wohltaten erwiesen hatte, da nahm sie ihn auf wie ihren eigenen Sohn.

Zum Glück stand das Haus der Alten gerade gegenüber der Fassade des Königspalastes, an dessen Fenstern die schöne Rosenblüte fast jeden Morgen bei Sonnenaufgang erschien. Eines strahlenden Morgens nun lehnte sie wieder am Fenster, nur mit einem weißen Schleier bedeckt. Als der Prinz diese holde Blüte der Schönheit erblickte, war er so überwältigt, dass er gestürzt wäre, hätte ihn die Alte nicht festgehalten. Und da diese hörte, er habe es sich in den Kopf gesetzt, das Mädchen zu heiraten, so versuchte sie ihn mit allen Mitteln davon abzubringen. Sie erinnerte ihn daran, der König werde seine Tochter nur dem Manne zur Frau geben, der ein ganz bestimmtes Versteck erriete. Alle andern aber ließ er töten, und schon viele Prinzen hatten auf diese Weise ihr Leben lassen müssen. Aber er erwiderte nur, wenn er die schöne Rosenblüte nicht bekomme, so wolle er sterben.

Nun hatte ihm die Alte erzählt, dass der König für seine Tochter die seltensten Musikinstrumente anschaffe. So hört denn, was sich der Prinz da ausdachte! Er ging zu einem Hersteller von Klavizimbeln und sprach zu ihm: „Ich möchte ein Klavizimbel haben, das drei Stücke spielt, und jedes Stück muss einen Tag lang dauern; dann muss das Klavizimbel so gebaut sein, dass sich ein Mensch darin verbergen kann. Dafür zahle ich dir tausend Dukaten. Wenn das Instrument fertig ist, krieche ich hinein, und du musst das Zimbel unter dem Palast des Königs spielen lassen, und wenn es der König kaufen will, so verkaufst du es ihm unter der Bedingung, dass du es alle drei Tage abholen musst, um es wieder instand zu setzen.“

Der Instrumentenbauer war einverstanden und tat alles, was ihm der Prinz aufgetragen hatte. Der König kaufte das Klavizimbel in der Tat und ließ sich auf die Bedingung des Verkäufers ein. Dann ließ er das Instrument ins Schlafzimmer seiner Tochter bringen und sprach: „Schau, mein Töchterchen, was ich dir bringe! Es soll dir an keiner Unterhaltung fehlen; selbst wenn du zu Bett liegen musst und nicht schlafen kannst.“

Neben der schönen Rosenblüte schliefen ihre Hofdamen. Während nun in der Nacht alles in tiefem Schlafe ruht, schleicht der Prinz aus seinem Versteck im Zimbel und ruft leise: „Schöne Rosenblüte, schöne Rosenblüte!“ Sie erwacht erschrocken und schreit: „Hofdamen, rasch herbei, es ruft mich jemand!“ Die Damen laufen herbei und sehen niemand, denn der Prinz ist schnell wieder in seinem Instrument verschwunden. Dies wiederholte sich noch zweimal, und jedes Mal waren die Hofdamen herbeigeeilt, ohne jemanden zu entdecken. Da meinte die schöne Rosenblüte: „Dann habe ich wohl phantasiert. Wenn ich noch einmal rufe, so kommt auf keinen Fall.“

Der Prinz im Klavizimbel hatte alles genau verfolgt und auch diese Worte vernommen. Kaum sind die Hofdamen wieder eingeschlummert, so stellt er sich neben das Bett der Geliebten und flüstert: „Schöne Rosenblüte, gib mir doch einen Kuss, sonst muss ich sterben.“ Am ganzen Leibe zitternd, ruft sie nach ihren Damen, doch infolge ihres Verbotes rührt sich keine von der Stelle. Da spricht sie zum Prinzen: „Du bist der Glückliche und hast gesiegt. Neige dich zu mir herab!“ Und sie gibt ihm den Kuss, doch auf den Lippen des Prinzen bleibt eine herrliche Rose hängen. „Nimm diese Rose“, spricht sie, „und bewahre sie an deinem Herzen, sie wird dir Glück bringen.“ Der Prinz verbarg sie an seinem Herzen und erzählte dann der Geliebten seine Geschichte von dem Zeitpunkt an, da er das Vaterhaus verlassen hatte, bis zu dem Augenblick, da er in ihre Kammer gedrungen war. Die schöne Rosenblüte freute sich herzlich und zeigte sich gern bereit, ihn zum Mann zu nehmen. Doch damit sie ihr Ziel erreichten, müsse er noch viele Schwierigkeiten überwinden, die ihm der König bereiten werde. Zuerst werde er den Weg erraten müssen, der in ein Versteck führe, wo der König sie mit hundert Hofdamen einschließen werde; dann müsse er sie unter den hundert Hofdamen herausfinden, die alle gleich gekleidet und obendrein verschleiert seien. „Doch über diese Schwierigkeiten“, meinte sie, „mach dir keine Gedanken, denn die Rose, die du mir von den Lippen gepflückt hast und die du ständig am Herzen tragen musst, zieht dich wie ein Magnet zuerst in das Versteck und dann in meine Arme. Doch der König wird dir noch andere Hindernisse, womöglich fürchterliche, in den Weg legen, und mit denen musst du allein fertig werden. Vertrauen wir auf Gott und auf unser Glück!“

Der Prinz ging unverzüglich zum König und bat ihn um die Hand der schönen Rosenblüte. Der König sagte nicht nein, stellte ihm aber die Bedingungen, von denen sie bereits gesprochen hatte. Er ging darauf ein und überwand die ersten Schwierigkeiten mit Hilfe der Rose. „Bravo“, rief der König, als der Prinz die schöne Rosenblüte zwischen den vielen Hofdamen herausgefunden hatte, „allein damit ist es noch nicht getan.“ Und er sperrte ihn in ein großes Zimmer ein, das von oben bis unten mit Früchten angefüllt war, und befahl ihm unter Todesstrafe, alle diese Früchte an einem Tag aufzuessen. Der Prinz ist verzweifelt, doch zum Glück fallen ihm die Schweinsborsten und der Rat ein, den ihm sein erster Schwager erteilt hat. Er wirft die Borsten auf die Erde, und schon trabt eine große Herde von Schweinen herbei, die alle diese Früchte verzehren und sogleich wieder verschwinden.

Doch der König hatte eine weitere Aufgabe bereit. Er verlangt vom Prinzen, dass dieser seine Braut, bevor er mit ihr ins Bett geht, von Singvögeln einschläfern lässt, welche die süßesten Stimmen und das schönste Gefieder besitzen. Dem Prinzen fällt sogleich der Strauß Federn ein, den ihm sein Schwager, der Jäger, geschenkt hat, und er wirft ihn zu Boden. Eine Schar bunt schillernder Vögel flattert herbei und singt so wunderlieblich, dass der König selbst in einen wohligen Schlummer versinkt.

Doch ein Diener, den der König damit beauftragt hat, weckt ihn wieder, und der König sagt zum Prinzen und zu seiner Tochter: „Jetzt könnt ihr euch nach Lust und Liebe umarmen. Doch wenn ihr morgen euer Lager verlasst, so muss ich bei euch ein Kind von zwei Jahren vorfinden, das sprechen und euch mit Namen nennen kann, andernfalls seid ihr des Todes.“ – „Jetzt legen wir uns erst einmal ins Bett, liebste Frau“, sagt der Prinz zur schönen Rosenblüte, „und morgen wird uns schon irgendein Heiliger helfen.“

Anderntags fällt dem Prinzen das Totenknöchlein ein, das ihm sein Schwager, der Totengräber, geschenkt hatte. Er steigt aus dem Bett und wirft es auf die Erde, und auf einmal steht ein bildhübscher Knabe vor ihnen, der hält einen goldenen Apfel in der Rechten und ruft die Eltern mit Namen. Der König tritt ins Zimmer, und der Knabe läuft ihm entgegen und will ihm den goldenen Apfel auf die Krone legen, die der König auf dem Kopfe trägt. Da kann sich der König nicht enthalten, das Kind zu küssen, und er segnet die Brautleute, nimmt seine Krone vom Haupte und setzt sie seinem Schwiegersohn mit den Worten auf: „Von nun an gehört die Krone dir.“

Dann feierten sie ein prächtiges Hochzeitsfest, zu dem sie auch die drei Schwestern des Prinzen mit ihren Männern einluden. Und als der Vater des Prinzen die frohe Nachricht von seinem Sohn erhielt, den er bereits tot geglaubt hatte, kam er herbeigeeilt und überließ ihm ebenfalls seine Krone. So wurden der Prinz und die schöne Rosenblüte König und Königin von zwei Reichen und lebten fortan froh und glücklich bis an ihr seliges Ende.

Quelle: Märchen aus Italien 

Samstag, 18. Mai 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Der gläserne Sarg

Sage niemand, dass ein armer Schneider es nicht weit bringen und nicht zu hohen Ehren gelangen könne, es ist weiter gar nichts nötig, als dass er an die rechte Schmiede kommt und, was die Hauptsache ist, dass es ihm glückt.

Ein solches artiges und behändes Schneiderbürschchen ging einmal seiner Wanderschaft nach und kam in einen großen Wald, und weil es den Weg nicht wusste, verirrte es sich. Die Nacht brach ein, und es blieb ihm nichts übrig, als in dieser schauerlichen Einsamkeit ein Lager zu suchen. Auf dem weichen Moose hätte er freilich ein gutes Bett gefunden, allein die Furcht vor den wilden Tieren ließ ihm da keine Ruhe, und er musste sich endlich entschließen, auf einem Baume zu übernachten. Er suchte eine hohe Eiche, stieg bis in den Gipfel hinauf und dankte Gott, dass er sein Bügeleisen bei sich trug, weil ihn sonst der Wind, der über die Gipfel der Bäume wehte, weggeführt hätte.

Nachdem er einige Stunden in der Finsternis, nicht ohne Zittern und Zagen, zugebracht hatte, erblickte er in geringer Entfernung den Schein eines Lichtes; und weil er dachte, dass da eine menschliche Wohnung sein möchte, wo er sich besser befinden würde als auf den Ästen eines Baums, so stieg er vorsichtig herab und ging dem Lichte nach. Es leitete ihn zu einem kleinen Häuschen, das aus Rohr und Binsen geflochten war. Er klopfte mutig an, die Türe öffnete sich, und bei dem Scheine des herausfallenden Lichtes sah er ein altes eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid anhatte. „Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?“ fragte es mit einer schnarrenden Stimme. „Ich bin ein armer Schneider“, antwortete er, „den die Nacht hier in der Wildnis überfallen hat, und bitte Euch inständig, mich bis morgen in Eurer Hütte aufzunehmen.“

„Geh deiner Wege“, erwiderte der Alte mit mürrischem Tone, „mit Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein Unterkommen.“ Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat so beweglich, dass der Alte, der so böse nicht war, als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm, wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies. Der müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen, würde auch noch nicht an das Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die dünnen Wände des Hauses. Der Schneider, den ein unerwarteter Mut überkam, sprang auf, zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus.

Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen großen schwarzen Stier und einen schönen Hirsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie gingen mit so großer Wucht aufeinander los, dass von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem Geschrei erdröhnte. Es war lange ungewiss, welcher von beiden den Sieg davontragen würde; endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getötet ward.

Der Schneider, welcher dem Kampf mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich da, als der Hirsch in vollen Sprüngen auf ihn zueilte und ihn, ehe er entfliehen konnte, mit seinem großen Geweihe geradezu aufgabelte. Er konnte sich nicht lange besinnen, denn es ging schnellen Laufes fort über Stock und Stein, Berg und Tal, Wiese und Wald. Er hielt sich mit beiden Händen an den Enden des Geweihes fest und überließ sich seinem Schicksal. Es kam ihm aber nicht anders vor, als flöge er davon.

Endlich hielt der Hirsch vor einer Felswand still und ließ den Schneider sanft herabfallen. Der Schneider, mehr tot als lebendig, bedurfte längere Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen. Als er sich einigermaßen erholt hatte, stieß der Hirsch, der neben ihm stehen geblieben war, sein Geweih mit solcher Gewalt gegen eine in dem Felsen befindliche Türe, dass sie aufsprang. Feuerflammen schlugen heraus, auf welche ein großer Dampf folgte, der den Hirsch seinen Augen entzog. Der Schneider wusste nicht, was er tun und wohin er sich wenden sollte, um aus dieser Einöde wieder unter Menschen zu gelangen.

Indem er also unschlüssig stand, tönte eine Stimme aus dem Felsen, die ihm zurief: „Tritt ohne Furcht herein, dir soll kein Leid widerfahren.“ Er zauderte zwar, doch von einer heimlichen Gewalt angetrieben, gehorchte er der Stimme und gelangte durch die eiserne Tür in einen großen geräumigen Saal, dessen Decke, Wände und Boden aus glänzend geschliffenen Quadratsteinen bestanden, auf deren jedem ihm unbekannte Zeichen eingehauen waren. Er betrachtete alles voll Bewunderung und war eben im Begriff, wieder hinauszugehen, als er abermals die Stimme vernahm, welche ihm sagte: „Tritt auf den Stein, der in der Mitte des Saales liegt, und dein wartet großes Glück.“

Sein Mut war schon so weit gewachsen, dass er dem Befehle Folge leistete. Der Stein begann unter seinen Füßen nachzugeben und sank langsam in die Tiefe hinab. Als er wieder feststand und der Schneider sich umsah, befand er sich in einem Saale, der an Umfang dem vorigen gleich war. Hier aber gab es mehr zu betrachten und zu bewundern. In die Wände waren Vertiefungen eingehauen, in welchen Gefäße von durchsichtigem Glase standen, die mit farbigem Spiritus oder mit einem bläulichen Rauche angefüllt waren. Auf dem Boden des Saales standen, einander gegenüber, zwei große gläserne Kasten, die sogleich seine Neugierde reizten. Indem er zu dem einen trat, erblickte er darin ein schönes Gebäude, einem Schlosse ähnlich, von Wirtschaftsgebäuden, Ställen und Scheuern und einer Menge anderer artigen Sachen umgeben. Alles war klein, aber überaus sorgfältig und zierlich gearbeitet, und schien von einer kunstreichen Hand mit der höchsten Genauigkeit ausgeschnitzt zu sein. Er würde seine Augen von der Betrachtung dieser Seltenheiten noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf, sich umzukehren und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen.

Wie stieg seine Verwunderung, als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe und ein Band, das der Atem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. „Gerechter Himmel“, rief sie, „meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarg wegschiebst, so bin ich erlöst.“ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel verhallte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann herangehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuss auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie: „Mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, in ungestörter Freud dein Leben zubringen. Sitz nieder und höre die Erzählung meines Schicksals.

Ich bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben, als ich noch in zarter Jugend war, und empfahlen mich in ihrem letzten Willen meinem älteren Bruder, bei dem ich aufgezogen wurde. Wir liebten uns so zärtlich und waren so übereinstimmend in unserer Denkungsart und unsern Neigungen, dass wir beide den Entschluss fassten, uns niemals zu verheiraten, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben. In unserm Hause war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns häufig, und wir übten gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Masse. So geschah es auch eines Abends, dass ein Fremder in unser Schloss geritten kam und unter dem Vorgeben, den nächsten Ort nicht mehr erreichen zu können, um ein Nachtlager bat. Wir gewährten seine Bitte mit zuvorkommender Höflichkeit, und er unterhielt uns während des Abendessens mit seinem Gespräche und eingemischten Erzählungen auf das anmutigste. Mein Bruder hatte ein so großes Wohlgefallen an ihm, dass er ihn bat, ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spät in der Nacht vom Tische auf, dem Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermüdet, wie ich war, meine Glieder in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich die Töne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte, woher sie kamen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermädchen rufen, allein zu meinem Erstaunen fand ich, dass mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust, von einer unbekannten Gewalt die Sprache benommen und ich unvermögend war, den geringsten Laut von mir zu geben. Indem sah ich bei dem Schein der Nachtlampe den Fremden in mein durch zwei Türen fest verschlossenes Zimmer eintreten. Er näherte sich mir und sagte, dass er durch Zauberkräfte, die ihm zu Gebote ständen, die liebliche Musik habe ertönen lassen, um mich aufzuwecken, und dringe jetzt selbst durch alle Schlösser in der Absicht, mir Herz und Hand anzubieten. Mein Widerwille aber gegen seine Zauberkünste war so groß, dass ich ihn keiner Antwort würdigte. Er blieb eine Zeitlang unbeweglich stehen, wahrscheinlich in der Absicht, einen günstigen Entschluss zu erwarten, als ich aber fortfuhr zu schweigen, erklärte er zornig, dass er sich rächen und Mittel finden werde, meinen Hochmut zu bestrafen, worauf er das Zimmer wieder verließ. Ich brachte die Nacht in höchster Unruhe zu und schlummerte erst gegen Morgen ein. Als ich erwacht war, eilte ich zu meinem Bruder, um ihn von dem, was vorgefallen war, zu benachrichtigen, allein ich fand ihn nicht auf seinem Zimmer, und der Bediente sagte mir, dass er bei anbrechendem Tage mit dem Fremden auf die Jagd geritten sei.

Mir ahnte gleich nichts Gutes. Ich kleidete mich schnell an, ließ meinen Leibzelter satteln und ritt, nur von einem Diener begleitet, in vollem Jagen nach dem Walde. Der Diener stürzte mit dem Pferde und konnte mir, da das Pferd den Fuß gebrochen hatte, nicht folgen. Ich setzte, ohne mich aufzuhalten, meinen Weg fort, und in wenigen Minuten sah ich den Fremden mit einem schönen Hirsch, den er an der Leine führte, auf mich zukommen. Ich fragte ihn, wo er meinen Bruder gelassen habe und wie er zu diesem Hirsche gelangt sei, aus dessen großen Augen ich Tränen fließen sah. Anstatt mir zu antworten, fing er an, laut aufzulachen. Ich geriet darüber in höchsten Zorn, zog eine Pistole und drückte sie gegen das Ungeheuer ab, aber die Kugel prallte von seiner Brust zurück und fuhr in den Kopf meines Pferdes. Ich stürzte zur Erde, und der Fremde murmelte einige Worte, die mir das Bewusstsein raubten.

Als ich wieder zur Besinnung kam, fand ich mich in dieser unterirdischen Gruft in einem gläsernen Sarge. Der Schwarzkünstler erschien nochmals, sagte, dass er meinen Bruder in einen Hirsch verwandelt, mein Schloss mit allem Zubehör verkleinert in den andere Glaskasten eingeschlossen und meine in Rauch verwandelten Leute in Glasflaschen gebannt hätte. Wolle ich mich jetzt seinem Wunsche fügen, so sei ihm ein leichtes, alles wieder in den vorigen Stand zu setzen: er brauche nur die Gefäße zu öffnen, so werde alles wieder in die natürliche Gestalt zurückkehren. Ich antwortete ihm so wenig als das erstemal. Er verschwand und ließ mich in meinem Gefängnisse liegen, in welchem mich ein tiefer Schlaf befiel. Unter den Bildern, welche an meiner Seele vorübergingen, war auch das tröstliche, dass ein junger Mann kam und mich befreite, und als ich heute die Augen öffne, so erblicke ich dich und sehe meinen Traum erfüllt. Hilf mir vollbringen, was in jenem Gesichte noch weiter geschah. Das erste ist, dass wir den Glaskasten, in welchem mein Schloss sich befindet, auf jenen breiten Stein heben.“

Der Stein, sobald er beschwert war, hob sich mit dem Fräulein und dem Jüngling in die Höhe und stieg durch die Öffnung der Decke in den obern Saal, wo sie dann leicht ins Freie gelangen konnten. Hier öffnete das Fräulein den Deckel, und es war wunderbar anzusehen, wie Schloss, Häuser und Gehöfte sich ausdehnten und in größter Schnelligkeit zu natürlicher Größe heranwuchsen. Sie kehrten darauf in die unterirdische Höhle zurück und ließen die mit Rauch gefällten Gläser von dem Stein herauftragen. Kaum hatte das Fräulein die Flaschen geöffnet, so drang der blaue Rauch heraus und verwandelte sich in lebendige Menschen, in welchen das Fräulein ihre Diener und Leute erkannte. Ihre Freude ward noch vermehrt, als ihr Bruder, der den Zauberer in dem Stier getötet hatte, in menschlicher Gestalt aus dem Walde herankam, und noch denselben Tag reichte das Fräulein, ihrem Versprechen gemäss, dem glücklichen Schneider die Hand am Altare.

Quelle: Brüder Grimm

Samstag, 11. Mai 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Das weiße Hemd, das schwere Schwert und der goldene Ring

Ein König hatte eine Frau genommen, die war zwar von hoher Geburt, aber nicht von hohem Sinn und brach ihm ihre Treue jeden Tag. Nach einem Jahre gebar sie dem König einen Sohn, der war weiß und rot gleich Milch und Blut und wurde mit jedem Tage schöner. Je mehr er heranwuchs, um so mehr zeigte er sich seines Vaters würdig; er war einer der klügsten und zugleich der edelsten und tugendhaftesten Jünglinge im ganzen Reich und alle, welche ihn kannten, sprachen, er sei eben so schön wie brav. Als er achtzehn Jahre alt war und so recht in seiner schönsten Blüte stand, da fasste die Königin plötzlich eine verbrecherische Liebe zu ihm und sprach zu sich selber: Er muss mein Gemahl werden, es mag gehen wie es wolle. Sie wusste wohl, dass sie dies nicht in ihrem Schlosse erreichen konnte und fürchtete auch, der Jüngling könne es seinem Vater sagen, wenn sie ihm davon spreche; darum machte sie einen Anschlag, ihn in ein fremdes fernes Land zu entführen, dort dachte sie, werde sie schon leicht ihr Ziel erreichen.

Bald darauf war der Geburtstag des schönen Prinzen und der König befahl, dass man ihn mit großen Festen feiere. Morgens sollten die Musikanten von allen Regimentern seines Heeres in der Kirche beim Gottesdienst spielen, Mittags um zwei Uhr sollte ein Gastmahl sein, zu welchem viele tausend Gäste geladen wurden, und Abends sollten alle Häuser der Stadt und das Schloss und alle Gärten am Schloss erleuchtet und überall Feuerwerke abgebrannt werden. Also geschah es auch. Als nun die Kirche aus war, da führte die Königin ihren Sohn in den Garten und plauderte ihm gar süß vor, so dass er gar nicht bemerkte, dass sie stets weiter von dem Schloss abkamen. Endlich standen sie ehe er sich’s versah, an einem Wasser, das war so groß, dass man das andere Ufer nicht sehen konnte, und am Ende lag ein prächtiges Schiff. „Ach welch ein schönes Haus da auf dem Wasser schwimmt!“ rief der Prinz, der noch nie ein Schiff gesehen hatte. „Du siehst das Haus nur von außen“, sprach die Königin, „von innen ist es noch viel schöner, als unser Schloss.“ „Ach das möchte ich sehen!“ sprach der Jüngling und da führte sie ihn auf das Schiff und ging mit ihm aus einem Zimmer in das andere und setzte sich in jedem nieder. Als sie so ein paar Stunden auf dem Schiffe zugebracht hatten, sagte der Prinz: „Liebe Mutter, jetzt wird das Mahl bald beginnen, darum müssen wir eilen, dass wir nach Hause kommen, damit mein Vater und die Gäste nicht auf uns warten müssen.“ „Es hat noch Zeit“, antwortete die Königin, aber er wollte fort und stieg hinauf auf das Verdeck. Wie erschrak der Prinz aber, als er von dem Garten keine Spur und ringsum nur Himmel und Wasser sah. Die Königin hatte nämlich mit dem Schiffmann ausgemacht, dass er am Schlossgarten zu der bestimmten Stunde halten und sobald sie auf dem Schiffe wären, die Anker lösen müsse, um sie in ein anderes Land zu fahren. Der Prinz lief vor Schrecken außer sich zu seiner Mutter und rief: „Mutter, das schwimmende Haus ist ein Räuberhaus und die Räuber haben uns entführt.“ „Sei ruhig, mein Sohn“, sprach die Königin, „ich wollte dich nur ein wenig erschrecken, bald kommen wir schon wieder an das Land.“ Darin hatte sie wohl recht, es dauerte nicht lange, da sah der Prinz ein schwarzes Pünktchen in der Ferne, das wurde immer größer und als sie näher kamen, war es ein prächtiger Eichenwald. Das Schiff fuhr gerade darauf zu und legte an, die Königin nahm ihren Sohn bei der Hand und sprach: „Hier steigen wir aus und du wirst schon bald zufrieden gestellt sein.“

Also traten sie ans Land und gingen in den schönen Wald. Der Prinz fragte wohl oft, ob das denn auch noch ein Lustgarten von des Königs Schloss sei und ob sie nun bald zu Hause wären, doch wusste sie ihn immer abzuschweigen, bis sie an einen freien Platz kamen. Da sprach sie: „Lieber Sohn, ich bin müde, lass uns hier ein wenig ausruhen.“ Als sie nun so neben einander im Grase lagen, da küsste sie ihn und sprach ihm von ihrer Liebe, sagte ihm auch, dass sie ihn entführt habe und jetzt müsse er ihr Gemahl werden, wenn sie nicht auf der Stelle sterben solle. Aber der Prinz verwies ihr streng dies schändliche Begehren und sprach: „Liebe Mutter, gedenke der großen Sünde, welche wir beide täten, das kann nun und nimmermehr geschehen.“ Dabei blieb er auch standhaft, wie viel die Königin ihm auch noch vorschwatzte. Als sie nun sah, dass Alles vergebens war, da fasste sie einen Hass auf ihn, der war eben so groß und noch größer, als ihre Liebe gewesen war. Sie ließ sich aber nichts merken und tat so freundlich, wie zuvor, sprach, sie habe seine Tugend nur auf die Probe stellen wollen.

Nachdem sie nun ausgeruht hatten, gingen sie zusammen weiter in dem Walde bis gegen Abend; da öffnete sich der Forst und sie sahen in der Ferne ein hohes, schönes Schloss liegen. Der Prinz sprach: „Liebe Mutter, bleibe du hier zurück, ich will zuerst in das Schloss gehen und sehen, wer da wohnt; wenn es kein Räuberhaus ist, dann hole ich dich bald wieder ab.“ Sie war damit zufrieden und er ging hin. Die Tore standen offen, er kam in den Hof und in die Zimmer, aber alle Leute, welche er sah, lagen im tiefsten Schlaf, die Bedienten und die Kammerjungfern, Koch und Köchin, Stallknecht und Viehmagd. Nachdem er fast das ganze Schloss durchwandert hatte, kam er zuletzt in einen hohen und herrlichen Saal, darin stand in der Mitte ein runder goldner Tisch und auf dem Tische lag ein weißes Hemd und ein goldner Ring. Rund um den Tisch lief aber eine silberne Schrift, welche hieß: „Wer dieses Hemd anzieht, der kann das Schwert an der Wand regieren. Wer diesen Ring in den Mund nimmt, versteht die Sprache der Vögel.“ Er schaute auf, da sah er an der Wand ein mächtiges, breites Schwert und da er in den Waffen sehr geübt war, wollte er es nehmen und ein paar Kreuzhiebe durch die Luft machen, aber er konnte es nicht einmal heben und vom Nagel langen. Da zog er das weiße Hemd an und steckte den Ring an den Finger; sogleich war ihm, als würde er ein ganz andrer Mensch und als flösse ganz neues, frisches Blut in seinen Adern. Er sprang in einem Satz an die Wand, fasste das Schwert und schwang es, wie einen Zierdegen, desgleichen die Hofherren zu tragen pflegen.

In demselben Augenblick hörte er in dem Schloss ein Laufen und Rennen, als wenn Hunderte von Leuten durcheinander liefen, die Tür flog auf und drei Diener in prächtigen Anzügen kamen herein und fragten: „Was befiehlt unser König und Herr?“ Im ersten Augenblick stutzte der Prinz, aber er fasste sich bald und sprach: „Es soll der schönste Wagen an den Wald fahren und meine Mutter abholen.“ Die Diener verneigten sich und eilten fort. Jetzt sah er sich weiter in dem hohen Saale um und fand in einer Ecke ein Bett, das stand hinter einem Vorhang und darin schlief ein alter Mann mit grauen Haaren, aber mit einem falschen Gesicht, aus welchem man nicht viel Gutes herauslas. Der Prinz versuchte ihn zu wecken, aber der Greis brummte nur so etwas in den weißen Bart hinein, dann wandte er sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Jetzt kam seine Mutter an und freute sich recht über das schöne Schloss, darin sie nun wohnen sollte, aber in ihrem bösen Herzen brütete sie über der Rache und dachte Tag und Nacht nur nach, wie sie den guten Prinzen verderben könne. Sie tat aber nur um so freundlicher gegen ihn und sagte ihm jeden Tag aufs neue vor, wie sie so glücklich sei, einen solchen Sohn zu haben und dass sie ihn mehr liebe, als Alles in der Welt.

Als der Prinz schon ein paar Tage in dem Schlosse gewesen war, ging er eines Tages auf dem Wall spazieren. Da hörte er ein jämmerliches Ächzen und Stöhnen, das lautete grade, als käme es aus der Erde. Er schwang sein Schwert, da kamen die Diener und er fragte sie, woher diese Töne kämen und wer also ächze. Die Diener sprachen: „Wir wissen es nicht, das weiß nur der Greis, welcher in dem Saale schläft, denn er hat die Schlüssel zu den unterirdischen Gängen.“ Der Prinz befahl ihnen, den Greis zu holen, allein der wollte nicht hervor, bis der Prinz ihm drohen ließ, er werde ihn mit Gewalt holen lassen. Da kam er und brachte ein Bund Schlüssel. Er rückte an einem Stein in der Mauer, da erschien eine kleine Türe, welche er aufschloss und die in einen dunkeln Gang führte. „Geht nun hinein“ sprach er mürrisch zu dem Prinzen, doch dieser hütete sich wohl und zwang den Greis, voran zu gehen. Je weiter sie in dem Gange kamen, um so näher lautete das Ächzen. Endlich standen sie vor einer zweiten eisernen Tür und als der Greis auch diese aufschloss, war da ein halbfinsteres Loch, worin das schmutzige Wasser und alle Unreinlichkeit aus dem Schlosse zusammenfloss. In diesem schrecklichen Aufenthalt saß ein Mädchen, dem die Kleider am Leibe fast verfault waren. Als es den Greis erblickte, rief es: „Gehe nur weg oder gib mir den Tod, damit meine Qualen ein Ende nehmen.“ Da trat der Prinz hervor aus dem dunkeln Gange, und befahl dem Greise, das Mädchen herauszuführen. Er zögerte Anfangs, aber da hob der Prinz sein Schwert und nun folgte er dem Befehl. Die Jungfrau aber rief flehentlich: „Ach führet mich nicht an das Licht des Tages, bevor ich Kleider habe, oder lasset mich hier sterben.“ Der Prinz tröstete sie mit freundlichen Worten und sprach: „Ihr seid gerettet aus eurer Höhle, und sollt Alles haben, was ihr begehrt.“ Dann trieb er den Greis ins Schloss zurück und schickte der Jungfrau zwei Dienerinnen mit Wasser zum Waschen, mit schönen Kleidern und mit guter kräftiger Nahrung, damit sie sich ein wenig erhole. Über eine Weile trat sie aus dem dunkeln Gang hervor und wie war sie so schön. Ihre Haare waren so goldig, als ob sie der Sonne ihre Strahlen genommen hätte, um ihr Haupt damit zu zieren und ihre Augen waren so blau, wie der Himmel am Abend, ihr Gesicht war aber grade, als ob es mit Lilien und Rosen bemalt wäre. Der Prinz war so entzückt, als er sie sah, dass er sich nicht halten konnte und auf sie zueilte, um ihr die Hand zum freundlichen Gruße zu bieten. Er nahm sie mit sich in das Schloss, da fragte er sie, woher sie sei und wie sie in das schreckliche Gefängnis komme. Sie erzählte ihm: „Ich bin eine Königstochter und meines Vaters Königreich liegt weit jenseits der See. Eines Tages ging ich mit meinen Dienerinnen am Ufer der See spazieren, da kam plötzlich ein Schiff mit Seeräubern, welche mich raubten und auf ihr Schiff schleppten. Sie verkauften mich dem falschen Greis, welcher damals in diesem Schlosse herrschte, und dieser ließ mir nun Tag und Nacht keine Ruhe und wollte, ich solle seine Gemahlin werden. Als ich aber seine Hand verschmähte und nichts von ihm wissen wollte, da warf er mich in jenes schreckliche Loch, wo er mir nur alle drei Tage Brot und Wasser brachte und mich dabei fragte, ob ich meinen Sinn bald ändere. Da ich das nicht wollte, so ließ er mich dort, bis ich in den Zustand kam, in welchem ihr mich gefunden habt.“ Da nun Mitleid und Liebe gute Freundschaft halten und der Prinz schon gleich als er sie gesehen für sie eingenommen war, so entbrannte er nun in heißer Liebe zu ihr und sprach: „Habet ihr des Greises Hand verschmäht, so biete ich euch nun die meine an, denn ohne euch kann ich nicht mehr leben, und wenn ihr nicht meine Gattin werden wollt, so will ich nie eine andere Frau.“ Der schönen Prinzessin gefiel der Prinz besser als der Greis, sie sprach in ihrer Unschuld: „Ich habe euch so lieb, dass ich nie einen andern zum Gemahl möchte, als euch.“ Da küssten sie einander und sprangen fröhlich herum und zu der alten Königin. Der war es natürlich ein Stich durchs Herz, als sie das hörte und jetzt hasste sie den Prinzen doppelt und dreifach. Sie sprach mit heuchlerischer Miene: „Ach wie freue ich mich, dass du eine so schöne und tugendhafte Jungfrau gefunden hast, mein Sohn, und ich eine so schöne Schwiegertochter. Wenn mir selbst das größte Glück auf der Welt zugefallen wäre, könnte ich nicht so froh sein, wie ich jetzt bin. Nun macht auch bald Hochzeit, meine lieben Kinder, ich sorge für Alles; seid nur recht glücklich, dann bin ich es auch.“ Und sie umarmte den Prinzen und die schöne Jungfrau und drückte sie an sich, aber heimlich dachte sie in ihrem Herzen: Wartet nur, ich will es euch eintränken! Da sprach die Jungfrau: „Die Hochzeit halten wir nicht hier, die muss bei meinen Eltern gefeiert werden, nach denen ich mich gar sehr sehne und die um mich in großen Sorgen sind. Lasst mich zu ihnen gehen, dann kommt mein Bräutigam nach.“ Die Königin sprach: „Jetzt habe ich dich noch lieber, weil du eine so liebevolle Tochter bist. Tue also; binnen Jahr und Tag komme ich mit meinem lieben Sohne dir nach und wir feiern die Hochzeit in Lust und Freuden.“ Heimlich dachte sie aber: Bist du nur erst aus dem Wege, mit ihm will ich schon fertig werden. Rasch ließ der Prinz ein Schiff ausrüsten und binnen drei Tagen fuhr die Prinzessin ab. Die alte Königin aber hatte den Schiffskapitän bestochen, er müsse machen, dass ihn die Prinzessin heirate, gehe es nun wie es wolle.

Als das Schiff auf hoher See war, kam der Kapitän zu ihr und wollte ihre Liebe und Gunst gewinnen, aber sie wies ihn erzürnt zurück. Da sprach er: „Eins von Beiden mögt ihr euch wählen: wollt ihr noch zum Mann und dem König eurem Vater sagen, ich habe euch gerettet, oder wollt ihr ins Meer geworfen werden? Ihr habt drei Tage Bedenkzeit.“ Als sie wieder allein war, warf sie sich auf ihre Knie nieder und bat Gott um Rettung aus dieser neuen Not und Gefahr. Da kam ihr ein guter Gedanke und als der Kapitän am dritten Tage wieder vor sie trat und fragte, wozu sie nun entschlossen sei, sprach sie: „Jahr und Tag will ich Frist haben, dann mag die Hochzeit sein.“ Damit war der Kapitän zufrieden. Als sie ans Land kamen führte er sie zu ihren Eltern, erzählte ihnen, wie er sie aus einer finstern Höhle gerettet habe und begehrte ihre Hand. Der König und die Königin waren so froh, ihr Kind wieder zu haben, dass sie alsbald einwilligten, und über Jahr und Tag sollte die Hochzeit gehalten werden. Da sprach die Jungfrau: „Als ich in meiner Höhle lag habe ich ein Gelübde getan, das muss ich jetzt halten. Ich habe gelobt, wenn ich erlöst würde, Jahr und Tag ein Wirtshaus an offener Straße zu halten, darin sollte jeder arme Wanderer und Pilger ein freies Unterkommen finden und ich selber wolle sie bedienen.“ Der König war sehr dagegen, sprach, das schicke sich nicht für eine Prinzessin aus königlichem Stamme, aber die Königin sagte: „Was man Gott dem Herrn verspricht, das darf man nicht brechen, sonst folgt die Strafe auf dem Fuße. Richte ihr ein Wirtshaus ein und lass sie darin hantieren, wie sie gelobt hat, es wird ihr Schaden nicht sein.“ Da wurde das Wirtshaus gebaut und mancher arme Reisende und Pilger fand da Labung und segnete die fromme Königstochter und betete zu Gott, dass er es ihr lohnen möge. Jetzt wollen wir sie in dem Wirtshaus lassen und sehen, wie es dem Prinzen erging.

Als die Prinzessin weg war und die falsche Königin gar nicht wusste, wie sie den Prinzen verderben könne, offenbarte sie sich zuletzt dem Greise und der war gleich bei der Hand, ihr dabei zu helfen, nur musste sie ihm versprechen, seine Gemahlin zu werden und das tat sie gern. Er sprach: „Siehe zu, dass er in die Löwengrube gehe, welche in dem Schlossgraben ist, dann werden ihn die Löwen zerreißen.“ Da legte sich die Königin auf ihr Bett und tat, als sei sie todkrank. Der Prinz war in tiefer Bekümmernis um sie und fragte eines über das andere Mal, womit ihr wohl geholfen werden könne? Sie sprach: „Ach lieber Sohn mir kann geholfen werden, aber es ist Gefahr dabei und du könntest leicht dabei zu Schaden kommen, da möchte ich jedoch lieber sterben, als dass dir etwas zu Leide geschähe.“ „Ich kenne keine Gefahr, liebste Mutter“, sprach der Prinz, „wenn es um dein Leben geht.“ Sie antwortete: „Was bist du für ein guter Sohn! So will ich es dir denn sagen: Wenn ich eins von den Löwenwelpen an meine Brust lege, dann zieht die Kraft in mich hinein und ich werde in Zeit von einem Tage gesund.“ Der Prinz lief auf der Stelle zu der Löwengrube, trat unerschrocken hinein und da ein Löwe edlem Blut kein Leid antut, so ließen ihn die alten Löwen ruhig gewähren. Als er ein Junges fasste, da brüllte die Löwin und erhob sich, doch der Prinz sah sie mit einem so scharfen Blick an, dass sie sich augenblicklich wieder hinlegte. Die Königin setzte den jungen Löwen an ihre Brust und rief: „Ich fühle ordentlich, wie ich neue Kraft bekomme, jetzt bin ich gerettet.“ Als der Löwe aber nicht ruhig blieb und seine Krallen ausstreckte, schrie sie: „Es ist jetzt gut, nimm ihn weg und mache ihn tot, ich kann ihn nicht länger an mir leiden.“ Der Prinz nahm den Löwen und sprach: „Warum sollte ich das arme Tierchen töten, da es doch meiner lieben Mutter Leben gerettet hat? Ich will es seiner Mutter heimbringen, wie ich es ihr genommen habe.“ So trug er den jungen Löwen wieder in die Grube zurück und die alte Löwin brüllte laut vor Freude, ab sie ihr Welpchen wieder hatte.

Da dieser Plan also fehlgeschlagen war, beriet die Königin wieder mit dem Greise, wie sie den Prinzen verderben könnten und der Greis sprach: „Es gibt nur ein Mittel, du musst ihm das Hemd ausziehen, dann hat er keine Kraft mehr, das Schwert zu schwingen und wir werden seiner bald Meister.“ Die Königin lud eine Menge von Gästen zu sich ein, ging zu dem Prinzen und sprach: „Da du mich vom Tode gerettet hast, lieber Sohn, so habe ich dir zu Ehren ein großes Mahl anstellen lassen, komm nun und setze dich neben mich, damit wir uns zusammen freuen.“ Der Prinz folgte ihr hocherfreut zu dem Saal, wo die Gäste schon beisammen waren. Als er nun gegen Ende des Mahles recht eifrig mit den Gästen sprach, goss sie rasch einen Schlaftrunk in seinen Becher. Dann hob sie ihr Glas und rief: „Mein lieber Sohn soll leben, der mich vom Tode gerettet hat.“ Da nahm er seinen Becher und trank ihn in einem Zuge leer. Bald darauf gingen die Gäste nach Hause, der Prinz aber fühlte sich gar müde und legte sich zu Bette, wo er bald fest einschlief. Nun schlich die Königin mit dem Alten in das Zimmer, da zogen sie ihm das weiße Hemd aus und der Alte zog es an. Dann nahm dieser ein Messer, gab es der Königin und sprach: „Nun stich ihm das linke Auge aus.“ Sie tat es, der Alte grub ihm das rechte Auge auch noch aus und dann warfen sie ihn in die Löwengrube.

Durch den Schmerz war der Prinz sogleich erwacht und hatte wohl gesehen, wie groß die Falschheit seiner Mutter war und auch gehört, wie der Alte über ihn triumphierte. Als er fühlte, dass man ihn in die Löwengrube warf, war er froh, denn er glaubte nicht anders, als die Löwen würden ihn sofort verschlingen und das wäre ihm recht gewesen, denn er war des Lebens gar satt. Das geschah aber nicht, sondern die Löwin kam zu ihm und brüllte so recht traurig, und die Löwenwelpen kamen und leckten ihm die Augen, bis sie ganz heil waren. Jeden Tag brachte die Löwin ihm ein Stück Fleisch, das legte sie auf seine Knie und er nahm es und aß es roh, das war seine ganze Nahrung. Das Fleisch holten sich die Löwen aber durch einen Erdgang, der lief aus der Löwengrube in den Wald. Als der Prinz nun eines Tages so in der Grube herumtappte, entdeckte er den Gang und kroch hinein. Lange spürte er nur eine dumpfe, schwere Luft, dann aber wurde ihm das Atmen immer leichter und endlich merkte er, wie sich der Gang erweiterte, wie frische Waldluft ihn anwehte. Er hörte die Vöglein in den Bäumen singen, die Hirsche und Rehe springen und fühlte die Sonne warm auf sein Angesicht scheinen. Er dankte Gott auf den Knien für seine Rettung und schaffte sich dann weiter, so gut es eben ging. Gegen Abend rauschte es in der Ferne, darauf ging er zu und gelangte also an das große Weltmeer. Dort hatte grade ein Schiff angelegt, um frisches Wasser einzunehmen. Als der Schiffskapitän ihn sah, dauerte ihn der arme blinde Jüngling, der so verlassen da herum schlich und er fragte ihn, ob er mitfahren wolle? „Ja das will ich gern, denn hier müsste ich ja Hungers sterben“, sprach der Prinz und stieg in das Schiff, wo ihn der gute Kapitän auf das Beste hielt und pflegte, so dass er von Tag zu Tage frischern Mutes wurde. Als das Schiff anlegte, nahm er unter vielem Dank von dem Kapitän Abschied und schlich auf der Landstraße weiter.

Eines Tages kam er an eine große Stadt. Vor dem Tore rief eine Frau: „Kommt herein in mein Haus, hier werden alle armen Reisenden und Pilger gepflegt.“ Er streckte seine Hand aus und ließ sich in das Haus führen, wo er ein gutes Essen und ein prächtiges Bett bekam. Ehe er schlafen ging, kam die Frau, setzte sich zu ihm und sprach: „Erzählt mir jetzt eure Geschichte, das ist meine Bezahlung.“ „Die möchte ich lieber verschweigen“, antwortete der Prinz, „denn sie ist sehr traurig, aber wenn ihr sie hören wollt, so erzähle ich sie.“ Und nun fing er an und legte ihr Alles auseinander, wie es ihm ergangen war. Die Wirtin wurde immer aufmerksamer, als er aber daran kam, wie er die schöne Jungfrau aus dem Loche erlöst und sich mit ihr verlobt hatte, da schloss sie ihn in ihre Arme und rief unter blutigen Tränen: „O lieber Bräutigam, ach dass ich dich also wiederfinden muss!“ Wie war das eine so große Freude und dabei eine so tiefe Betrübnis, als er ihr erzählte, wie seine Mutter und der falsche Greis an ihm gehandelt hatten. Die schöne Jungfrau konnte ihrer Tränen nicht Herr werden, wenn sie ihn ansah und die eingesunkenen leeren Augenhöhlen erblickte. Als er seine Erzählung zu Ende hatte, ließ sie ihn schön kleiden, führte ihn zu ihrem Vater und sprach: „Lieber Vater, heut ist mein schönster Lebenstag, denn der liebe Gott hat mir meinen rechten Erlöser und einzigen Bräutigam wiedergegeben;“ und sie ließ ihn dem Könige die ganze Geschichte erzählen. Der König glaubte ihm zwar, doch da die erste Freude des Wiedersehens seiner Tochter vorüber war, so ärgerte er sich, dass sie einen blinden Prinzen heiraten wollte. Jedenfalls war ihm der Jüngling als Prinz lieber, als der Schiffskapitän, darum tat dieser wohl, sich sogleich aus dem Staube zu machen, als die Sache bekannt wurde. Nun wurde in einer abgelegenen Gegend des Schlossgartens ein kleines Schloss gebaut, die Hochzeit des Prinzen mit der Prinzessin ganz heimlich gefeiert und dann zogen sie in das Schlösschen und bekamen nichts als das Essen von dem Könige; ihre Kleider mussten sie sich selber stellen, daran spann und webte die Prinzessin Tag und Nacht.

Die Hofherren ärgerten sich aber nicht wenig über diese Heirat, denn der Prinz konnte ihnen keine großen Gastmähler geben, worauf sie sehr viel hielten, und Bälle und Tanzbelustigungen wurden gleichfalls keine gehalten, worauf ihre Frauen sehr viel gaben. Zudem wollte es ihnen nicht gefallen, dass sie einmal von einem blinden König regiert werden sollten. Sie verschworen sich also, sie wollten das Schlösschen, wo der Prinz mit seiner Frau wohnte in die Luft sprengen, und das sollte bald geschehen.

Eines Abends gingen die Beiden aus ihrem Schlösschen in ihr kleines Gärtchen, wo sie der frischen Kühle genießen wollten, und setzten sich unter einen hohen Lindenbaum. Da zog der Prinz sein Einziges vom Finger, was er aus seinem Schloss gerettet hatte, den goldnen Ring und steckte ihn in den Mund, denn er wollte sich einen Zeitvertreib machen und hören, was sich die Vögel wohl erzählten. Da flogen drei Krähen auf den Lindenbaum, die fingen an zu schwätzen und die erste sprach: „Ich weiß etwas, wenn ihr das wüsstet!“ „Was ist das denn?“ fragten die beiden andern, „wir wissen auch etwas.“ „Drüben beim Schultheiß ist ein Pferd gefallen, das wird ein köstliches Aas, ah das soll mal schmecken“, sprach die erste Krähe. Da begann die zweite und sprach: „Ich weiß etwas andres, wenn das die zwei wüssten, die da unterm Baume sitzen, dann säßen sie nicht da.“ „Was ist das?“ fragten die beiden andern. „Diesen Abend um zehn Uhr wird das Schlösschen, worin sie wohnen, in die Luft gesprengt, das haben die Hofherren ihnen gebraut.“ Nun sprach die dritte Krähe: „Ich weiß etwas, wenn das der blinde Prinz da drunten wusste, der wäre erst froh!“ „Was ist das?“ fragten die beiden andern. „Diese Nacht zwischen elf und zwölf Uhr fällt ein Tau vom Himmel, wer sich damit die Augen bestreicht, der wird auf der Stelle sehend. Nun kommt zu dem toten Gaul, bevor ihn andre holen.“ Da erhoben sie sich wieder und flogen weg.

Der Prinz steckte seinen Ring wieder an und sprach zu seiner Frau: „Komm, wir wollen ein Stückchen weiter in den Wald hinein gehen, der Abend ist ja so schön.“ Da folgte sie ihm. Als sie kaum eine Viertelstunde weit waren, blitzte es plötzlich und dann tat es einen Knall, als wenn tausend Kanonen auf einmal losgeschossen würden. Die Prinzessin erschrak, so dass sie fast ohnmächtig zusammen gesunken wäre; als der Prinz ihr aber die ganze Geschichte erzählte, da freute sie sich und beide dankten Gott für ihre Lebensrettung, und legten sich unter einem Baum im Walde zur Ruhe nieder. Die Prinzessin entschlummerte bald, der Prinz aber wachte. Als es gegen die zwölfte Stunde ging, tastete er im Grase umher und strich sich den Tau zusammen, damit wusch er sich die Augen. Je mehr er wusch, um so heller wurde es vor ihm und als er dreimal gewaschen hatte, da sah er den Mond wieder, wie seine Strahlen durch die Bäume fielen, und sah seine liebe Frau wieder, wie sie so wunderschön im Mondenschein dalag. Er küsste sie vor lauter Wonne, da erwachte sie und schaute ihren Mann an und fast hätte sie ihn nicht wieder erkannt, so klar und schön glänzten seine Augen sie an. Jetzt füllte er auch seine Wasserflasche noch mit dem Tau und hing sie um, denn er dachte: Wer weiß ob ich’s nicht einmal gebrauchen kann. Also wuchs ihnen aus großem Unglück ein noch viel größeres Glück und sie waren nun überreich bei ihrer größten Armut. Aber sie sollten noch viel größere Leiden ertragen und die Zeit ihrer Prüfung war noch nicht zu Ende.

Sie gingen am Morgen immer weiter im Walde fort und nährten sich von Wurzeln und Kräutern. Da die Prinzessin des Gehens aber ungewohnt war, so wurde sie bald müde und gegen Mittag setzte sie sich unter eine Eiche, legte ihren Kopf in den Schoß des Prinzen und schlief ein. Er betrachtete sie mit wonniglichen Blicken, wie sie in Schönheit strahlte; da sah er an ihrem Halse ein Säckchen an einer Schnur hängen und als er es öffnete, fand er darin einen Karfunkelstein, der gefiel ihm so gut, dass er leise die Schnur löste und ihn lange betrachtete. Er hätte ihn aber auch gern einmal in der Sonne spielen sehen, darum legte er ihn neben sich ins Gras, hob sanft der Prinzessin Haupt von seinem Schoß und legte es auf ein Kissen von Laub und Moos, welches er eilig zurecht machte. Als er aber wiederum nach seinem Steine langen wollte, hatte ein Rabe ihn genommen und spielte damit. Er sprang dem Raben nach, da flog derselbe auf und setzte sich weit weg auf einen Baum. Der Prinz verfolgte ihn, und warf mit Steinen nach ihm, da sprang der Rabe von Ast zu Ast und von Baum zu Baum, bis er zuletzt im Gebüsch verschwand. Betrübt suchte der Prinz den Rückweg auf, aber er fand ihn nicht und verirrte sich immer tiefer in den Wald hinein und wurde immer trostloser. Da kam ein feiner Herr des Weges daher, den fragte er nach dem Baume, worunter er seine liebe Frau im Schlafe hatte liegen lassen. Der Herr wusste ihm aber keinen Rat und sprach: „Solcher Bäume gibt es tausend im Walde, den findest du nicht wieder. Geh mit mir und du sollst es nicht schlecht haben.“ Da folgte er dem Herrn zu einem schönen weißen Waldhause, darin saßen elf Burschen an einem reichgedeckten Tische und ließen es sich wohl sein. Der Herr sprach: „Nun ist eure Zahl voll, jetzt seit ihr zwölf. Ihr bleibt nun Jahr und Tag hier und sollt Alles vollauf haben, aber am Ende des Jahres müsst ihr mir drei Rätsel lösen. Wer das kann, bekommt einen Geldbeutel, der nie leer wird, wer es aber nicht kann, der muss sterben.“ Da jubelten die elf Burschen und ließen den Herrn hoch leben und sie jubelten also fort das ganze Jahr hindurch. Oft riefen sie dem Prinzen, er solle Teil an ihrer Lustbarkeit nehmen, aber der war still und in sich gekehrt, aß und trank wenig, sprach noch weniger, aber dachte ohne Unterlass an seine arme Frau. Jetzt wollen wir sehen, wie es mit ihr ergangen ist.

Als sie erwachte und ihren Mann nicht fand, rief sie ihm lange und natürlich vergebens. Da fühlte sie plötzlich, dass ihr das Säckchen am Halse fehle. Ach sollte er mir den Stein geraubt haben und damit entflohen sein? dachte sie, und was konnte sie auch anders denken? Der Gedanke betrübte sie gar zu sehr und wäre sie nicht so fromm gewesen, sie hätte sich den bittern Tod angetan. Nun aber gab sie ihr trauriges Schicksal in des Himmels Hand und ging weiter im Walde gar mühsame Wege, bis sie an das Meer kam. Da lag ein Schiff vor Anker, das nahm sie um Gotteswillen auf und setzte sie nach vielen Wochen in einem fremden Lande an das Ufer. Sie ging und ging, bis sie in der Ferne ein Schloss sah und als sie näher kam, erkannte sie, dass es das Schloss war, wo der Prinz sie gerettet hatte. Da wurde sie frohen Mutes, denn sie dachte, ihr Mann werde wieder dort sein, und wenn er sie wieder sehe, könne er sie ja nicht verstoßen. Also ging sie in das Schloss und fragte nach dem Prinzen; die Diener wollten ihr eben sein trauriges Schicksal erzählen, da kam die Königin hinzu und erkannte sie. „Ei bist du hier und was hast du denn hier zu suchen?“ fragte das böse Weib; da erzählte die Prinzessin, wie sie ihren Mann suche, den sie im Walde verloren habe, „Komm mit herein“, sprach die Königin; als die Prinzessin ihr folgte, schloss sie schnell die Tür ab und rief den Greis. Sie fassten die Prinzessin, gruben ihr Abends die Augen aus und warfen sie in die Löwengrube. „Da kannst du deinen Mann suchen“, riefen sie ihr nach und verhöhnten sie. Die Löwen fraßen sie aber nicht, sondern die jungen Löwen leckten ihr die Augen heil und die Alten brachten ihr Nahrung, so dass sie am Leben blieb.

Unterdessen war das Jahr in dem Waldhause fast verstrichen und die elf Bursche dachten nicht einmal an die drei Rätsel; um desto mehr dachte der Prinz daran und sann und sann, was es wohl sein könne, aber er konnte nichts herausfinden. Eines Abends setzte er sich in den Wald unter eine Eiche, da flogen drei Atzeln heran und ließen sich in dem Laub der Eiche nieder. Was mögen die wohl schwatzen? dachte der Prinz, legte seinen Ring unter die Zunge und horchte ihnen zu. „Heisa ihr Brüder!“ rief die Eine, „morgen gibt es einen Festtag für uns, elf fette Handwerksburschen und einen magern Prinzen.“ „Wie meinst du das?“ fragte die Zweite. „Morgen müssen sie die drei Rätsel lösen und sie wissen nicht eins davon“, sprach die Dritte. „Wisst ihr sie denn?“ fragte die Zweite und da schrieen die beiden andern: „Ja, ja, ich will sie sagen, nein ich will sie sagen.“ „Fang du an“, sprach die Zweite und die Erste begann: „Das eine Rätsel ist, wovon das Haus gebaut sei, das andere, woher sie das Essen gehabt hätten und das dritte, warum es in dem Hause nie Nacht werde?“ „Nun rate du sie“, sprach die Zweite und die Dritte plapperte: „Das Haus ist von Armesünderknochen gebaut, das Essen kommt von des Königs Tafel und das helle Tageslicht im Hause von dem Karfunkelstein, welchen der Zauberer als Rabe dem armen Prinzen im Walde gestohlen hat und der nun an der Decke hängt.“ Als sie so geplappert hatten, hoben sie die Flügel und flogen weiter. Der Prinz aber erfreut legte sich zum erstenmal seit einem ganzen Jahre ruhig schlafen.

Am andern Morgen tafelten und spielten die elf Burschen wieder, da kam der Herr durch den Wald daher und rief schon von weitem: „Nun ihr Burschen, stellt euch in Reih und Glied, jetzt müsst ihr die Rätsel lösen.“ Die Elf folgten gutes Mutes, der Prinz stellte sich ans Ende. Der Herr fragte: „Woraus ist das Haus gebaut?“ „Ei von Backstein“ sagte der Erste, „von Bruchstein“ der Zweite, „von Lehm und Holz“ der Dritte und so weiter bis es an den Prinzen kam, der sprach: „Von Armesünderknochen.“ „Du hast es geraten“ sagte der Herr. „Jetzt sagt mir weiter, woher kam euer Essen?“ „Aus der Garküche“, schrieen alle elf, aber der Prinz sagte: „Von des Königs Tafel.“ „Du hast es geraten“ sagte der Herr. „Nun sagt mir zum Dritten, warum war euer Haus bei der Nacht so hell, wie bei Tage?“ „Von einer Lampe“, schrieen die Elf zugleich, aber der Prinz sprach: „Von dem Karfunkelstein, den du mir als Rabe gestohlen hast und der an der Decke hängt.“ „Du hast es geraten und hier ist dein Geldbeutel, der nie leer wird“, sprach der Herr und gab ihm den Beutel, den Elfen aber schlug er die Köpfe ab. Unterdessen ging der Prinz in das Haus und nahm den Karfunkelstein wieder, dann wanderte er seines Weges weiter im Walde fort, bis er an das Meer kam. Dort ging er weiter bis zur nächsten Seestadt, mietete sich ein Schiff und fuhr nach dem Schloss, wo seine Mutter zurückgeblieben war. Habe ich bei allem Unglück so viel Glück gehabt, dachte er, wer weiß ob ich das Schloss nicht wieder gewinne und meine Frau dazu.

Es war dunkler Abend, als das Schiff in der Nähe des Schlosses vor Anker ging. Er verkleidete sich in einen Matrosen, stieg ans Land, und ging auf das Schloss zu. Leise schlich er hinein und auf den Boden. Als Alles im Schlafe lag, stieg er auf das Dach und ließ sich durch einen Schornstein in das Zimmer hinab, wo er den Greis schlafend gefunden hatte. Das Erste was er sah, war das weiße Hemd, welches auf dem runden goldnen Tische lag. Er zog es an, fasste das Schwert, welches an der Wand hing und durchsuchte das Zimmer; da lag der Greis in demselben Bette, wie das Erstemal und bei ihm die Königin. Dreimal schwang der Prinz das Schwert, da stürzten die Diener herein und begrüßten ihn freudig als ihren König und Herrn. „Bindet die Beiden zusammen und werfet sie in einen Käfig, wo sie gleich Vieh gehalten werden sollen!“ rief der Prinz und es geschah. Die Königin suchte zwar wieder durch neue Lügen und Ränke den Prinzen zu bestricken, aber es gelang ihr nicht; sie wurde gebunden in den Käfig geworfen.

Das Erste was die Diener ihm sagten, war, dass die Prinzessin da gewesen sei und nach ihm gefragt habe. Da hob sich sein Herz in neuer Hoffnung. Er ließ die Königin fragen, wo die Prinzessin geblieben sei, aber sie wollte es nicht sagen und vergebens wurde in dem alten Loche gesucht. In seiner Betrübnis kam ihm da der Gedanke, er wolle sich den guten Löwen dankbar beweisen und ihnen einmal eine reichliche Mahlzeit geben. Es wurden Ochsen und Rinder geschlachtet und die Diener mussten ihm das Fleisch in großen Mulden nachtragen. So ging er zum Löwenzwinger um es ihnen selbst zu geben. Aber ach du Jammer, als er die Tür öffnete und seine liebe Frau blind in der Löwengrube wiederfand. Er stürzte auf sie zu und schloss sie in seine Arme und das war wieder einmal viel Unglück bei viel Glück. Er führte sie sogleich mit sich in das Schloss, da wusch er vor Allem ihre Augen mit dem Tau, welchen er einst in der Flasche gesammelt hatte und wie lachte sie ihn da so selig an! Jetzt war Beider Glück vollkommen und er gab ein Fest nach dem andern zur Feier ihres Wiedersehens. Dann schrieb er seinem Vater Alles nach der Ordnung, wie es sich begeben hatte und reiste mit seiner lieben Frau zu dem alten König; den Käfig mit der Königin und dem Greise ließ er nachkommen und übergab Beide seinem Vater zur Bestrafung. Da wurden sie auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt. Der Prinz aber folgte seinem Vater in der Regierung, erbte später auch das Königreich seiner Frau, und da an dem Schloss auch ein Königreich hing, so war er Herr über drei Königreiche.

Quelle: Johann Wilhelm Wolf 

Samstag, 4. Mai 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Das Mädchen, das nicht schweigen konnte

Es war einmal ein Hausierer, der reiste nach Ribe in Handelsgeschäften. Er übernachtete in einem Dorf, und da kam er mit der Tochter vom Haus ins Gespräch und fing mit ihr zu tändeln an.

Und am Morgen, als er abreisen wollte, sagte er zu ihr, er wolle sie zur Frau nehmen, wenn er zurückkehre, falls sie es verschweigen könne.

»Ja, freilich kann ich das verschweigen«, sagte sie.

Als er abgereist war, mußte sie das Frühstück richten. Da stand der Aschentrog voll Asche neben dem Herd, und dicht dabei stand das Mehlfaß. Da griff sie fehl und nahm eine Handvoll Asche. In dem Augenblick kam ihre Mutter und sagte: »Was hast du denn, warum stehst du da und machst dummes Zeug! Ich glaube gar, du nimmst Asche statt Mehl!« – »Ja so!« sagte sie, »ich war in Gedanken!« – »Das müssen aber saubere Gedanken sein«, sagte die Mutter. – »Es ist, weil der Krämer, der hier war, gesagt hat, er wolle mich heiraten, wenn er wiederkäme, falls ich darüber schweigen könnte.« – »Ja, freilich können wir das verschweigen, das können wir gewiß«, meinte darauf die Mutter.

Als das Mädchen die Grütze fertig hatte, ging sie in die Stube, wo die Breischüssel mit dem Boden nach oben stand, und da wandte sie sie um. Da kam die Frau mit der Grütze, und weil sie gewohnt war, daß die Schüssel immer umgekehrt stand, so drehte sie sie nochmals und fing an, die Grütze über den Boden der Schüssel zu schütten. Aber man hatte den Mann zum Frühstück gerufen, und in dem Augenblick kam er herein und sah alles. Da sagte er: »Was machst du denn für dummes Zeug hier?« – »Ja so«, sagte die Frau, »ich war in Gedanken.« – »Das müssen aber hochwichtige Gedanken gewesen sein«, sagte er. – »Ja, es war wegen des Krämers«, sagte sie, »der hier übernachtet hat, er hat zu unserer kleinen Mette gesagt, er wolle sie heiraten, wenn er wiederkäme, falls sie es verschweigen könne.« – »Da können wir das ja verschweigen, wir sind ja Manns genug dazu«, sagte er.

Wie sie mit ihrem Frühstück fertig waren, da wollte der Mann aufs Feld, um zu pflügen. Er machte sich auf den Weg und kam zum Pflug, der am Ackerrand stand. Da war auch sein Nachbar zum Pflügen draußen. Nun wollte der Mann die Ochsen hinten an den Pflug spannen, und da kam sein Nachbar und fragte: »Warum machst du denn so dummes Zeug?« – »Ja so, ich war in Gedanken und habe mich dumm angestellt.« – »Das müssen kuriose Gedanken sein. Was sind denn das für wichtige Sachen, an die du denkst?« – »Letzte Nacht hat ein Krämer da übernachtet, der hat zu unsrer kleinen Mette gesagt, er wolle sie heiraten, wenn er wiederkäme, falls sie es verschweigen könnte.« – »Das könnt ihr ja ruhig verschweigen, dazu seid ihr Manns genug«, sagte der Nachbar.

Aber die Sache wurde nicht verschwiegen, sondern machte überall die Runde. Als der Krämer auf der Rückreise wiederkam, erkundigte er sich drei, vier Meilen, ehe er in den Ort kam, und die Leute wünschten ihm Glück von allen Seiten.

Darüber ärgerte er sich sehr, und als er in das Dorf kam, kehrte er nicht bei diesem Mann ein, sondern bei seinem Nachbarn und blieb da über Nacht. Der Mann hatte ebenfalls eine Tochter, und er verliebte sich in sie; und da winkte ihm eine viel größere Mitgift, denn der Mann war reicher als der andere; und so blieb es dabei, die beiden sollten einander heiraten, und sie wurden aufgeboten und die Hochzeit festgesetzt.

Nun waren die Leute, bei denen er auf der Hinreise übernachtet hatte, zur Hochzeit eingeladen, aber sie wollten nicht einmal hin, so ärgerlich waren sie. Aber als der Hochzeitstag kam und der Hochzeitszug in die Kirche wollte, da bat Mette, ob sie nicht mit ihnen in die Kirche gehen und auch ihre Gabe auf den Teller legen dürfe. Dazu bekam sie auch die Erlaubnis. Als sie zum Opfern am Altar gewesen war und wieder zurückkam, da drehte sie sich nach dem Bräutigam um und sagte: »Ich hab doch noch gute Zuversicht zu dir!«

Als die Brautleute am Abend im Bett waren, wurde die Braut neugierig und wollte wissen, was das Mädchen ihm in der Kirche zugeflüstert hatte. »Ach, die arme Plaudertasche!« sagte er. »Sie sagte, sie hätte immer noch gute Zuversicht zu mir, mir scheint aber, die Zuversicht sollte vorbei sein.« Darauf sagte sie: »Ja, die ist ihrer Lebtag eine Plaudertasche gewesen, nicht das geringste hat sie verschweigen können und immer alles gesagt, was sie wußte. Nein, da habe ich anders schweigen können, drei Kinder hab ich gehabt und sie alle drei hier unter dem großen Baum begraben; und ich habe es nie einem Menschen gesagt, außer dir.« Da sprang er von ihr weg aus dem Bett und sagte, er wolle sie nicht zu eigen haben, wenn sie solche Abenteuer hinter sich hätte. »Ich will doch die andere nehmen«, sagte er, »kann sie das Gute nicht verschweigen, so kann sie das Schlechte noch viel weniger verschweigen.«

Als es Tag war, zeigte er es der Obrigkeit an, und da bekam sie ihre verdiente Strafe. Aber ihm wurde freigestellt, zu heiraten, wen er wolle, und da nahm er die erste Liebste.

Quelle: Aus Dänemark- Klara Stroebe - Nordische Volksmärchen

Samstag, 27. April 2024

Ein Märchen zum Wochenende

Die beiden Geschwister und die drei Hunde

Ein Müller und seine Frau starben nacheinander. Sie hinterließen aber zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, und diesen zum Erbe nichts andres als eine Ziege und einen Hahn. Da wollten die Kinder beide Tiere verkaufen, damit sie zu leben hätten, und es band der Knabe der Ziege den Hahn zwischen die Hörner und trieb sie zum Jahrmarkt. Auf der Straße traf er zu einem Fleischhauer, der wollte gerade Vieh kaufen und führte drei Hunde mit sich, einen schwarzen, einen weißen und einen gefleckten. „Willst du nicht mit mir tauschen?“ sprach er zum Knaben. Der sah sich die Hunde an, und weil sie ihm sehr gut gefielen, schlug er ein. Der Fleischhauer gab ihm noch ein Pfeifchen und sagte: „Wenn du dieses blasest, so kommen die Hunde, wo sie auch immer sind, dir zu Hilfe!“ Damit kehrte er nach Hause. Aber seine Schwester fing an zu weinen, als sie sah, dass ihr Bruder kein Brot brachte. „So müssen wir jetzt doch verhungern!“ rief sie einmal über das andere.

Die Hunde aber hatten alles verstanden, und sie sprangen nur einmal auf und liefen fort. In der Nähe war gerade das königliche Lustschloss. Da lief der schwarze in die Küche und brachte einen Braten. Der weiße lief in die Speisekammer und brachte ein Brot, der gefleckte sprang in den Keller und holte eine Flasche Wein. Nun freuten sich die beiden Kinder, aßen und tranken und hatten von da an keine Not. Denn wenn sie hungrig waren, so brachten ihnen die Hunde immer Speise. Aber der König hatte gehört, dass drei Hunde so und so in seine Küche, seine Speisekammer und seine Keller einbrachen und das Beste fortschleppten und dass man sie nicht fangen könne. Da befahl er, man solle überall nachsuchen, und wenn man die Hunde fange, sie und ihre Herren umbringen. Das erfuhren auch die Kinder. Sie machten sich schnell auf und zogen mit den Hunden tief in einen Wald. Hier kamen sie an eine Hütte, drinnen brannte eine Kerze. Sie gingen hinein, und da war eine alte Frau. „Gottlob!“ rief sie, „heute Nacht gibt es wieder etwas zum Umbringen! Denn wisset, hier hausen zwölf Räuber, die bald nach Hause kommen.“ Die Kinder fürchteten sich sehr. Allein dem Knaben kam es bald ein, was zu machen sei. Er ließ den schwarzen Hund vor der Gassentüre, den weißen hinterm Tor, den gefleckten vor der Haustüre Wache halten.

Bald kamen sechs Räuber und fluchten und tobten. Die alte Räubergroßmutter wollte hinaus und ihre Leute warnen. Allein der gefleckte Hund knurrte, sprang gegen sie und ließ sie nicht heraus. Als aber die sechs an das Haus kamen, sprang der schwarze Hund auf, riss sie nieder und brachte alle um. Dann legte er sich zwischen die Toten und lauerte wieder. Nach kurzer Zeit kamen auch die sechs anderen. Der schwarze riss sie ebenfalls nieder und würgte sie. Nur einer von den Räubern, ein junger Kaufmann, war nicht ganz tot. Der schleppte sich noch zum Tor hinein. Da riss ihn der weiße Hund zu Boden. Die alte Räubergroßmutter musste jetzt alles zeigen, was zu sehen war. In einer Kammer lagen große Haufen gestohlener Schätze, und an einer Wand hing ein großes Schwert, das hüpfte in der Scheide. Der Knabe nahm es und band es sich an die Seite. Der Keller war voll von Toten. Dahin musste die Alte auch die Erschlagenen schleppen. Allein den halbtoten jungen Kaufmann verschloss sie unbemerkt in die Kammer.

Am andern Morgen nahm der Knabe seinen schwarzen Hund und ging fort, um die Gegend zu beschauen. Die Schwester blieb mit den beiden anderen Hunden in der Räuberhütte. Da nahm die Alte einen Topf, ging hinaus in die Kammer, schmierte den Kaufmann, und alsbald war er frisch und gesund. Beide kamen nun zur Schwester und überredeten sie, sie solle den Kaufmann heiraten und hier wohnen und alle Schätze besitzen. Ihren Bruder sollten sie umbringen, doch müssten sie erst die Hunde fortschaffen. Das sei aber leicht. Sie solle nur einzeln dieselben in die Kammer nach Mehl schicken, da werde sie die Alte einsperren. Dem Mädchen gefiel der junge Kaufmann, und es willigte ein, und dieser versteckte sich. Als ihr Bruder nach Hause kam, erschien ihm seine Schwester verändert, sie sprach auch ganz anders. Nur einmal schickte sie die Hunde hinaus in die Kammer nach Mehl. Da merkte sich der Knabe etwas. Er ging hinaus und wollte in die Kammer. Diese aber war fest verschlossen. Da erinnerte er sich an das Pfeifchen, das ihm der Fleischhauer gegeben. Er nahm es hervor und blies. Auf einmal sprang die Tür entzwei, und die drei Hunde waren um ihn. Nun ging er wieder in die Hütte. Da stand seine Schwester und der junge Kaufmann und wollten den Knaben eben angreifen und umbringen. Aber er zog sein Schwert und hieb dem Kaufmann den Kopf ab, ging dann in die Kammer und tat an der Alten ein Gleiches. Darauf befahl er seiner Schwester, die Toten in den Keller zu schleppen, warf sie dann selbst hinein und sprach, indem er sie einschloss: „Bis du den jungen Räuber nicht aufgegessen hast, sollst du immer hier bleiben!“

Dann nahm der Knabe seine drei Hunde und zog fort. Er kam aber in eine Stadt, wo die Häuser alle mit schwarzem Flor überzogen waren. Er fragte gleich, was das zu bedeuten hätte. Da erzählte ihm der Wirt: In der Nähe sei ein siebenhäuptiger Drache. Dem müsste jedes Jahr eine Jungfrau dargebracht werden, und jetzt sei es an der Tochter des Königs, und darum sei die Stadt in Trauer. Da geschah es, dass die Königstochter hinausfuhr ohne Begleitung. Nur der Kutscher war auf dem. Wagen. Der Knabe nahm seine Hunde und zog auch dahin. Er kam auf einem Umwege noch eher zur Stätte. Der Kutscher aber getraute sich nicht, nahe zu fahren. Er hielt schon von weitem still, und die Königstochter musste zu Fuße die übrige Strecke zurücklegen. Als sie anlangte, kam ihr der Knabe entgegen und sprach: „Fürchte dich nicht, ich will den Drachen bestehen!“ Sein Schwert hüpfte schon in der Scheide und sehnte sich nach dem Drachenblut. Bald kam der fürchterliche Wurm schnaubend herangefahren. Der Knabe erhob sein Schwert, und auf einen Hieb waren alle Häupter unten. Er blieb aber unbedacht auf der Stelle stehen, und nun traf ihn der zappelnde Schweif des Drachen, so dass er wie tot hinfiel. Die Hunde sprangen nun auf den Drachen und machten ihn in kurzem vollends tot. Nur zuckten die Glieder, bis die Sonne unterging. Die Königstochter aber sank hin zur Leiche und weinte sehr. Da kamen auch die Hunde und weinten und wussten keinen Rat. Endlich erinnerten sich der weiße und gefleckte Hund an den Topf, aus dem die Alte im Wald den Kaufmann lebendig gemacht. Wie sie es erzählten, gab ihnen der schwarze einen derben Schlag, warum sie nicht eher daran gedacht hätten, und sie mussten gleich hinlaufen und den Topf bringen.

Als die Königstochter den Toten geschmiert hatte, schlug er die Augen auf, war frisch und gesund, und es schien ihm, als erwache er aus einem tiefen Schlafe. „Du hast mich gerettet und sollst nun auch meine Hand haben, wie es mein Vater versprochen hat!“ rief die Königstochter. Der Knabe freute sich des, aber er wollte sie prüfen, ob sie ihm auch treu sein würde, und sprach daher: „Ich muss noch in der Welt herumziehen und Drachen bekämpfen. Aber unter Jahr und Tag komme ich, dann wollen wir Hochzeit halten!“

Die Königstochter schnitt darauf ihren Namen aus dem Taschentuch und gab ihn dem Knaben, und jedem der Hunde legte sie ein seidenes Band um den Hals, dem schwarzen ein weißes, dem weißen ein schwarzes und dem gefleckten ein gestreiftes. Dann schnitt der Junge noch die Zungen aus den Drachenhäuptern, steckte sie ein und ging weiter. Die Königstochter aber weinte. Als der Kutscher sah, dass der Drache erlegt und der Junge fort war, lief er auch hin und fragte die Königstochter, warum sie weine, da sie jetzt befreit sei. Wie sollte sie nicht weinen, sprach sie, da ihr Retter sie verlassen habe. Der Kutscher aber baute hierauf gleich einen bösen Plan. Er drohte der Königstochter, wenn sie nicht verspreche zu sagen, dass er den Drachen erlegt habe, so wolle er sie auf der Stelle umbringen. In der Not versprach es die Königstochter. Da nahm er die Häupter vom Drachen, lud sie auf den Wagen und fuhr mit der Königstochter heim. Alles Volk jubelte, als man sie wieder sah, und pries ihren Retter, und für den gab sich der Kutscher aus. Der König wollte auch gleich Wort halten und ordnete an, dass die Hochzeit gefeiert werde. Aber seine Tochter bat ihn sehr, er solle ihr noch ein Jahr freie Zeit gönnen, und so ließ er’s geschehen.

Eben war das Jahr zu Ende und der Hochzeitstag da. Die ganze Stadt war festlich geschmückt, und in der königlichen Küche und im Keller war alles beschäftigt. Der Knabe war ebenfalls auf die verabredete Zeit in die Stadt gekommen. Der Gastwirt erzählte ihm nun, warum die ganze Stadt heute so fröhlich sei:

Der Kutscher des Königs habe vor einem Jahr den Drachen erlegt, und heute erst, weil es die Königstochter so gewünscht, solle die Hochzeit gefeiert werden. Da sah der Knabe, wie treu ihm die Königstochter gewesen und dass ein schändlicher Betrug im Spiele sei. Er sagte aber nichts von sich und von dem, was er vorhabe. Nur behauptete er, er werde heute das Beste von der Königstafel essen und trinken und am Ende werde ihn der alte König selbst mit vier weißen Hengsten zum Hochzeitsmahle führen. Der Wirt glaubte nicht, dass dieses möglich sei, und wettete auf sein ganzes Vermögen.

Als es Mittag war und es hieß, dass alle schon an der königlichen Tafel säßen, schickte der Knabe seinen schwarzen Hund hin, er solle von dem Teller der Königstochter den Braten bringen. Der Hund lief in einem fort, riss alle Wachen, die ihm wehren wollten, nieder, und eben hatte man der Königstochter das beste Stück vorgelegt, als der Hund es packte und damit fortlief und es seinem Herrn brachte. Die Königstochter aber hatte den Hund an dem weißen Bande gleich erkannt und freute sich im Herzen, dass ihr Retter nahe sei. Nun wollte der Knabe auch Brot haben. Das musste der weiße Hund holen. Der machte es ebenso wie der schwarze, nahm es der Königstochter neben dem Teller her fort und lief hinaus. Der alte König, der Bräutigam und die Gäste erstaunten und waren zornig. Nur die Königstochter freute sich. „Jetzt will ich aber auch trinken!“ sprach der Knabe, als er gegessen hatte. Der gefleckte Hund musste den Wein holen, der vor der Königstochter auf dem Tische stand. Er machte es ebenso wie der schwarze und weiße Hund. Die Königstochter freute sich, als sie auch ihn sah. Aber der alte König konnte seinen Zorn nicht mehr zurückbehalten. Er gab Befehl, man solle den Herrn der Hunde erforschen und gleich gebunden vor ihn bringen. Sogleich gingen eine Menge Soldaten hin und her und suchten ihn und kamen so auch ins Wirtshaus.

As sie die Hunde hier sahen und ihren Herrn daneben, wollten sie ihn packen und fortführen. Allein die Hunde fielen gleich über sie her und warfen sie zu Boden. Als man dem König das meldete, stieg sein Zorn aufs höchste. Er schickte alle seine Soldaten hin, um den Frevler herbeizuholen. Allein auch diese konnten nichts machen. Die Hunde rissen alle nieder. Da ließ der Knabe sagen, der König solle gleich mit vier weißen Hengsten nach ihm kommen und ihn zur königlichen Tafel führen. Der König hatte seinen Zorn zwar aufgegeben. Denn er sah ein, dass er es mit einem mächtigen Herrn zu tun habe. Allein sein Stolz ließ es ihm nicht zu, selbst hinzufahren. Er schickte nur einen Minister und einen Hofwagen mit zwei Pferden. Aber der Knabe wies diesen zurück und ließ dem König sagen, er solle gleich selbst kommen und mit einem Viergespann, so wie es verlangt worden, sonst würde es ihm nicht gut gehen. Die Königstochter redete ihrem Vater zu, er solle nicht sein Leben aufs Spiel setzen, und so bemeisterte er seinen Zorn und fuhr hin. Als der königliche Wagen von vier weißen Hengsten gezogen vor dem Wirtshause hielt, lief der Wirt wie wahnsinnig zum Knaben und sprach: „Du hast die Wette gewonnen. Ich aber bin ein ruinierter Mann!“ Allein der Knabe tröstete ihn gleich: „Also du glaubst mir jetzt? Nun, ich schenke dir wieder alles, was du verspielt hast!“ Damit ging er hinaus und setzte sich neben den König, und seine drei Hunde sprangen auch in den Wagen. Sobald er fortrollte, rief der Wirt: „So einen Gast habe ich in meinem Leben nie beherbergt!“

Als sie im Königssaale anlangten, setzte sich der Knabe sogleich der Braut gegenüber, und neben dieser saß der Bräutigam. Nun aß man und war lustig. Zuletzt kam man nach mancherlei Gesprächen auf die Beantwortung von Fragen. Als die Reihe zu fragen an den Knaben kam, sprach er: „Was verdient der, welcher den König auf das schändlichste betrügt?“ Der Bräutigam rief sogleich: „Der verdient, dass man ihn an den Schweif eines wilden Pferdes binde und durch die Stadt schleife.“ Da erhob sich der Knabe: „Du hast dir selbst dein Urteil gesprochen, denn wisse, ich bin der Drachentöter, nicht du!“ Der Kutscher aber behauptete noch fort, dass er ihn getötet habe, und ließ zum Beweise die sieben Drachenhäupter hereinbringen. Noch waren die Gäste auf seiner Seite. Da sprach aber der Knabe, man solle dem Drachen in den Mund sehen. Da fanden sie keine Zungen darin. „Wo sind denn die Zungen“, fragte der Knabe, „wenn du den Drachen getötet hast?“ Darauf war der Kutscher nicht gefasst und behauptete dreist, Drachen hätten keine Zungen. Den Gästen kam das nun doch sonderbar vor. Allein sie wussten nicht, wie die Sache wäre. Da ließ man den Koch hereinrufen, und der König fragte diesen, ob er ein Tier kenne, das keine Zunge hätte. Der Koch sprach, er kenne keines. Alle Tiere müssten auch eine Zunge haben, denn womit sollten sie sonst schmecken. „Nun!“ sprach aber der Knabe, „will ich es noch mehr beweisen, dass die Drachen Zungen haben“, nahm damit sein Tuch heraus, wickelte es auf und legte sieben Drachenzungen vor, und als man sie in den Mund hielt, passten alle genau.

Der Kutscher fing nun an zu zittern und wollte hinaus: allein man hielt ihn fest. „Jetzt aber wird auch die Königstochter es bezeugen, dass ich den Drachen getötet habe.“ Damit nahm er den Namen aus ihrem Taschentuch und sprach: „Ist das deine Arbeit? Siehe die Halsbänder der Hunde, kennst du sie? Erzähle!“ Jetzt, da die Sache ohne ihr Zutun schon heraus war, hielt sie sich ihres Eides für los und ledig und erzählte alles vom Drachenkampf und wie sie ihrem Befreier den Namen aus ihrem Schnupftuch gegeben und den Hunden die Halsbänder umgelegt habe. Wie dann der Kutscher hingekommen und gedroht habe, sie umzubringen, wenn sie ihm nicht eidlich verspreche, ihn für den Drachentöter auszugeben. Da wurde der Kutscher ergriffen und die Strafe, die er sich selbst bestimmt hatte, an ihm vollzogen.

Der Knabe aber hielt nun Hochzeit mit der Königstochter. Und diese war über alle Maßen froh und glücklich. Als der alte König starb, folgte ihm der Knabe im Reiche nach, und er herrschte weise und gerecht.

Aber ein Kummer nagte doch an seinem Herzen. Er dachte an seine Schwester, und obgleich diese so böse an ihm gehandelt, so hatte er ihr jetzt doch verziehen, und er wollte sie, wenn möglich, auch noch glücklich machen. Er zog daher mit seinen Hunden nach dem Waldhäuschen. Da fand er sie im Keller. Sie hatte alle Toten verzehrt, nur den Kaufmann nicht, und das wollte sie auch nicht, lieber sterben. Der Bruder nahm sie jetzt mit an seinen Königshof und machte sie zum ersten Hoffräulein. Allein sie hatte ihre Falschheit noch nicht aufgegeben. Ihr Bruder sollte es büßen, dass er sie so gestraft habe. Sie ließ bei einem Schmied ein scharfes Messer machen und stellte dieses in das Bett des Königs. Als dieser abends müde sich auf das Bett warf, ging es ihm durch und durch, und er war alsbald tot. Am Morgen aber, wie man hörte, dass der König ermordet wäre, wurde das ganze Land von der höchsten Trauer erfüllt. Die Schwester aber hatte ihr böses Gewissen vom Hofe fortgetrieben, und so war man überzeugt, dass sie es getan habe. Die Königin aber warf sich auf die Leiche, rang die Hände und konnte nicht weinen vor Schmerz. Die Hunde lagen um sie, winselten in der Trauer um ihren Herrn und ächzten. Da erinnerten sie sich an den Topf mit der lebendig machenden Salbe. Schnell liefen sie nach der Stelle, wo der Drache gelegen, fanden hier noch die Scherben und brachten sie, und es war noch so viel Salbe drinnen, dass man den König bestreichen konnte. Da schlug er wieder die Augen auf und war gesund. Alles war voller Jubel, allein niemand freute sich mehr als die Königin. Als man dem König sagte, was mit ihm vorgefallen und dass seine Schwester entwichen sei, rief er:

„Ja, die böse Schlange, das hat sie getan!“ Er ließ sie wieder aufsuchen und ins Waldhaus einsperren bei ihrem toten Kaufmann. Da musste sie nun fort an der Leiche sitzen. Bis sie verhungerte.

Es geschah aber, dass die Hunde jetzt vor den König traten und sprachen: „Von nun an können wir dir nichts weiter nützen, haue uns die Häupter ab.“ – „Nein, nie und nimmermehr, das wäre ein schöner Dank für so treue Dienste!“ Wenn sie ihm auch weiter keinen Dienst mehr erweisen könnten, so wolle er sie doch getreu pflegen bis an ihren Tod. Da baten sie ihn aber so sehr und so lange, dass er gerade den größten Dank ihnen damit erweise, wenn er ihren Wunsch erfülle, und so fasste er endlich betrübten Herzens sein Schwert und hieb jedem das Haupt ab. Siehe, da standen nur einmal drei Königssöhne: „Dank dir, du hast uns erlöst. Wir waren so lange verzaubert, bis zum Dank für geleistete Dienste ein junger Held uns das Haupt abschlagen würde, und das hast du getan!“ Damit zog jeder fort in seine Heimat, und so waren jetzt alle froh und zufrieden.

Quelle: Josef Haltrich