Die drei Fragen des Kaisers
Da lebte einmal vor siebenhundert und mehr Jahren an der Grenze des Reiches ein Markgraf, Wulf geheißen. Wahrhaftig, der machte seinem Namen alle Ehre! Er war ein tückischer und reißender Wolf und darum von seinen Untertanen, den armen Bauern, Hirten und Holzhauern, ebenso sehr gehasst wie gefürchtet.
Wie der die Leute schindete und plagte, das war nicht an den Himmel zu malen. Er trieb den Zehnten mit der Reitpeitsche ein und zwang auch noch die ältesten Greise ihm beim Wall- und Burgenbau zu fronen.
Am meisten Elend geschah aber den Bauern durch die Hirsche und Wildsauen, die der Graf in den weiten und tiefen Wäldern hegte und auf die er dann mit seinem wilden Gefolge gerade in der Erntezeit wochenlang Jagden und Hatzen veranstaltete.
„Was gehen mich die Bauern und ihre Kornfelder an!“, sagte er verächtlich. „Hussa! Mir nach!“, gab seinem Ross die Sporen und jagte mit der kläffenden Meute quer durch die reifen Ährenfelder. „Beschweren wollt ihr euch, ihr Mistbuben? Paßt auf, ich werd‘ euch beschweren, aber mit Quadersteinen und Maltersäcken! Klage führen wollt ihr vor dem Kaiser? Was geht mich der Kaiser an! Ich bin euer Herr, niemand sonst!“
Nun war dies nicht das erste Mal, dass das Volk so laut und vernehmlich gegen den Markgrafen sich stellte, dass das Murren bis zu den Ohren des Kaisers hinauf drang. Er hatte lange dazu geschwiegen. Nun ihm aber außerdem noch berichtet worden war, dass der Graf seine Gebote missachte und seinen Namen mit wenig Ehrfurcht im Munde führe, gedachte er ihm eine Lehre zu geben.
Er sandte einen Boten in die Grenzmark und lud mit einem freundlichen Schreiben den Grafen auf heute über drei Tage zu sich aufs Schloss. Der Markgraf kam zur vorgeschriebenen Zeit an und wurde sogleich in das kaiserliche Gemach geführt. „Wie geht es Euch, Graf?“, hub der Kaiser zu sprechen an. – „Gut, recht gut!“ antwortete der. – „Ihr habt also gar keine Sorgen und Beschwerden?“ fragte der Kaiser weiter.
„Ich weiß nicht, worüber ich klagen sollte, habe aber auch nichts zu wünschen übrig“, entgegnete der Graf, und aus dem Ton seiner Stimme war der Ärger über diese sonderliche Fragerei des Kaisers herauszuhören. „Aber Eure Bauern wissen, worüber sie zu klagen haben und ich, Graf Wulf, habe zu wünschen übrig!“ sprach da der Kaiser strenge, und seine Augen funkelten.
„Ich will Buch Sorgen und Beschwerden verschaffen, mehr als Euch lieb ist! Dessen seid gewiss! – Ich lege Euch drei Fragen vor. Hört gut zu. Erstlich: Was ist der Kaiser wert? Zum andern: Was ist der Bauer wert? Zum dritten: Wie weit sind Glück und Unglück voneinander? Gebt Ihr mir heute über einen Monat auf meine drei Fragen nicht die richtige Antwort, so seid Ihr Eurer Grafschaft und Eures ritterlichen Namens verlustig und könnt gehen!“
Das war der langsamste und traurigste Ritt, den der Markgraf je in seinem Leben getan hatte. Er brauchte die doppelte Zeit zu diesem Heimweg und sah und hörte doch nichts von dem sonnigen, bunten Herbsttage mit all seinem jubilieren und Vogelsingen.
Er ritt tief in grauen Gedanken, und als er endlich heimkam, saß er die ganze Nacht bis an den Morgen und sann und zerbrach sich den Kopf darüber, welches wohl die richtigen Antworten auf die drei Fragen des Kaisers wären. Doch er fand sie nicht und fand sie auch nicht am zweiten oder am dritten Tage; er hatte sie auch noch nicht gefunden, als der Mond am Himmel schon über das zweite Viertel hinaus gewachsen war.
Wie dumm und vorschnell hatte er doch dem Kaiser geantwortet! Nun wusste er, worüber klagen, und hatte Tage und Wochen hindurch nur den einen Wunsch übrig, dass er doch die Antworten auf die drei Fragen finden möge; denn von ihnen hing sein ganzes ferneres Leben ab. Er studierte dicke und gelehrte Bücher, doch sie konnten ihm die Rätsel nicht lösen. Er fragte seine Freunde und Bekannte, Doktoren, Gelehrte und Professoren; aber sie wussten alle keinen Rat.
Die Bauern und einfachen Leute seines Landes, die er so oft hart geplagt und in größter Bedrängnis ohne Hilfe gelassen hatte, die gönnten ihm nun seine eigene Not und sahen ihn mit Freuden Trübsal blasen. Allmählich nahte der Tag, an dem er vor dem Kaiser erscheinen musste, und dem Grafen wurde bange. Nach einer schlaflosen Nacht verließ er am letzten Morgen verzweifelt die Burg und machte sich auf den Weg in die Kaiserstadt.
Da traf er auf den Feldern vor dem Ort draußen einen Schafhirten mit seiner Herde. Der merkte an dem finsteren Gesicht des Grafen, dass seinem Herrn nicht wohl zumute sei und fragte ihn nach der Ursache. – „Ach, mein lieber Stöffel“, sagte der Graf traurig, „ich bin die längste Zeit dein gräflicher Herr gewesen.“
Der Markgraf schilderte dem Schäfer seine Not und legte ihm die drei Fragen des Kaisers vor: Was ist der Kaiser wert? Was ist der Bauer wert? Wie weit sind Glück und Unglück voneinander?
„Mhm“ – nickte der Stöffel, runzelte die Stirne und besann sich eine Weile. Dann sagte er – denn er war ein pfiffiger Kerl -: „Ich glaub‘, ich hab’s, gnädiger Herr! Leiht mir Euer gräfliches Gewand und hütet derweil in meinem Mantel meine Schafe. Wann es anfängt zu dunkeln, will ich für Euch zum Kaiser gehen und ihm die drei Fragen aufs beste beantworten.“ Damit war der Graf sogleich einverstanden. Sie wechselten ihre Kleider, und der Schäfer machte sich auf den Weg.
Zur festgesetzten Stunde trat der Schafhirt, als Graf verkleidet, vor den Kaiser. Der saß in seinem goldenen Thronsessel und sprach: „Nun, habt Ihr die richtigen Antworten auf meine drei Fragen gefunden?“ – „jawohl, allergnädigster Kaiser und Herr“, antwortete der Schäfer. „Ei, so schießt los!“
„Zum ersten“, begann der Schäfer, „ist der Kaiser wert, dass man seine Gebote halte und ihm in Ehrfurcht und Treue diene. Zum andern ist der Bauer wert, dass man seine Arbeit achte und den Segen seiner Felder dankbar schaue, hüte und schone. Und zum dritten sind Glück und Unglück nur einen Tag voneinander.“
„Wahr habt Ihr gesprochen, was die beiden ersten Fragen betrifft; wie aber kommt Ihr zu Eurer dritten Antwort?“, fragte der Kaiser. „Meine dritte Antwort, hochedler Herr und Kaiser, darum: Gestern noch bin ich ein Schafhirt gewesen, heute aber ein Graf.“
Der Kaiser verstand diese Worte gleich richtig zu deuten, erhob sich von seinem Thron und sah mit einem festen Blick dem Schäfer in die Augen. „So sei denn und bleibe ein Graf!“ sprach der Kaiser, legte ihm sein Schwert auf die Schulter und machte ihn zum Herrn über die Grafschaft, in der er bis zu diesem Tage einer der Geringsten gewesen war.
Quelle: Schwäbische Volksmärchen / Franz Georg Brustgi