Es gibt unzählige Höhlen in der südwestfranzösischen Aveyron-Schlucht – die Frühgeschichte ist allgegenwärtig. Was Archäologen 1990 in einer Grotte entdecken, ist dennoch außergewöhnlich: Abgebrochene Stalagmiten formen rätselhafte kreisförmige Anordnungen. Die Gebilde wurden vermutlich vor 176.000 Jahren von Neandertalern angelegt. Warum konstruierten sie diese Tropfsteinstruktur?
Ein merkwürdiger Fund tief im Inneren einer Tropfsteinhöhle in Südwestfrankreich gibt Archäologen seit mehr als 25 Jahren ein Rätsel auf. In einer Grotte in Bruniquel entdeckten Höhlenforscher nicht nur Spuren von Feuer und damit einen Hinweis auf menschliche Präsenz, sondern auch sechs kreisförmige Anordnungen aus abgebrochenen Stalagmiten – mit einem Durchmesser von bis zu sieben Metern. Gut 400 Stalagmiten zählt die weltweit einzigartige Tropfsteinstruktur, die ein Gesamtgewicht von 2,2 Tonnen aufweist. In Form geschlagen und angeordnet misst sie eine Größe von 112 Linearmetern.
Sie gilt als eine der wichtigsten archäologischen Entdeckungen unserer Zeit. Eine im Fachblatt „Nature“ veröffentlichte Studie datiert das Alter der Struktur auf 176.000 Jahre – damit muss auch das bisher angenommene Vordringen des Menschen in tiefe Höhlen viel weiter in die Vergangenheit zurückdatiert werden. Das Forscherteam um den französischen Prähistoriker Jacques Jaubert und die Paläoklimatologin Sophie Verheyden betrachten den Neandertaler seither in neuem Licht – seine kognitiven Fähigkeiten standen seit seiner Entdeckung Ende des 19. Jahrhunderts eher in schlechtem Ruf. Wozu diente die aufgefundene Struktur? Erfüllte sie praktische Zwecke oder hatte sie rituelle Funktion? Dass der Neandertaler schon in der frühen Steinzeit über kognitive, soziale und verbale Kapazitäten verfügte, ist nach dem Fund kaum noch von der Hand zu weisen. Hinzu kommt die Beherrschung des Feuers – wichtiges Orientierungsmittel in der Dunkelheit der Grotte. Der Fund sowie jüngste Erkenntnisse und exklusive Bilder lassen ein neues, realistisches Porträt des Neandertalers entstehen. Tatsächlich könnte der Bruniquel-Fund als Beweis dafür dienen, dass auch Steinzeitmenschen bereits Spiritualität besaßen.