Die Manekine
Es lebte einst ein weiser und gerechter König, der über ganz Ungarn herrschte; seine Gattin war eine armenische Königstochter von hoher Schönheit und übermenschlicher Güte, lange hätte man wandern müssen, um ihresgleichen zu suchen. In ihrer zehnjährigen Ehe hatte die Königin nur einer Tochter das Leben geschenkt, welche Joie hieß, weil durch ihre Geburt das ganze Land erfreut wurde. Der Tod, der auch die Großen der Erde nicht verschont, warf die Königin, noch ehe sie gealtert war, aufs Lager und verwandelte die Rosenfarbe ihres Leibes in Leichenblässe. Da sprach sie zu ihrem Gatten: »Herr, ich bitte Euch, daß ihr keine Frau nach mir heiratet. Wenn aber die Edlen Eures Landes nicht wollen, daß das ungarische Reich unserer Tochter verbleibt, und wenn Ihr Euch, um einen männlichen Erben zu erhalten, zu neuer Ehe entschließen müßt, so bitte ich Euch, daß Ihr nur eine Frau heiratet, welche mir gleicht.« Das beschwur der König und dann schied die Königin aus diesem Leben.
Kurz darauf versammelten sich die Barone und der älteste von ihnen sprach: »Das Königreich Ungarn würde in Bedrängnis geraten, wenn ein Weib es in seinen Händen hielte. Deshalb laßt uns zum König gehen und ihn von Herzen bitten, daß er nach unserem Rat eine neue Gattin nehme.« So taten sie, aber der König antwortete, er habe seiner toten Gemahlin versprochen, nie eine Frau zu nehmen, welche ihr nicht an Schönheit und Güte gleichkäme. Als die Barone solches hörten, wählten sie zwölf Boten aus, welche ausziehen sollten, um eine der toten Königin ähnliche Jungfrau zu suchen. Die Boten erschauten die Tochter von manchem König und von manchem Grafen und litten manche Pein, aber das Ziel ihres Suchens erreichten sie nicht.
Als der König beim heiligen Weihnachtsfeste zur Tafel saß, kamen die Boten zurück und berichteten, daß sie nirgends eine Frau gefunden hätten, welche der Verstorbenen gleiche. Nun geschah es aber, daß einer der Grafen die schöne Königstochter beim Mahle bediente, und als er sie anblickte, da schien es ihm, als sei sie ihre Mutter selber, nur daß sie um vieles jünger war. Nach dem Essen sagte er also zu den Baronen: »Ihr Herren, nie wird man ein solches Weib finden, wie es der König sucht, es sei denn, daß er seine Tochter heiratet.« Da nickten die Barone zustimmend, aber der König, dem sie ihre Meinung vortrugen, lehnte ein solches Ansinnen ab. Wie aber die Großen des Landes auf der Wiederverheiratung bestanden und wie auch die Prälaten und Bischöfe ihren Dispens erteilten, da besann sich der König und bat dann, ihm bis Lichtmeß Frist zu gewähren.
Einst trat der Vater unangemeldet in Joiens Gemach, er ergriff ihre Hand und setzte sich neben sie. Darauf schaute er ihr ins Gesicht und bemerkte, daß die Natur nie ein schöneres Weib gebildet hatte. Als er aber von ihr ging, war der Funke sündiger Liebe in seiner Brust entzündet. Eines Tages ließ er seine Tochter vor sich kommen und sprach zu ihr: »Liebe Tochter, erzürne dich nicht über das, was ich dir jetzt sagen werde!« »Vater,« entgegnete diese, »Euer Wille ist mir nie mißfällig.« »Liebe Tochter,« hub der König wieder an, »ich habe deiner Mutter auf ihrem Totenbette versprochen, daß ich nach ihr keine andere Frau heiraten wolle als eine solche, die ihr gliche. Aber nur du allein kommst ihr auf der weiten Erde gleich. Sieh, meine Barone wollen nicht, daß das ungarische Reich ohne männlichen Erben bleibe, deshalb hat die Geistlichkeit mir die Erlaubnis erteilt, mich mit dir zu vermählen: du sollst gekrönte Königin von Ungarn sein!« »Vater,« antwortete die Jungfrau, »laßt diese Worte! Ich würde lieber den Tod erleiden, als meiner Seele Seligkeit verlieren.« »Töricht hast du mir geantwortet,« rief der Vater voll Zorn, »wenn du dich meinem Willen nicht fügen willst, so werde ich dich zwingen!« Ohne Abschied ging er hinaus und die Jungfrau kehrte auf den Tod betrübt in ihre Kammer zurück.
Lichtmeß kam und Barone, Ritter und Geistliche versammelten sich wieder am Hofe. Der König sagte ihnen, daß er ihrem Willen, ein anderes Weib zu nehmen, willfahren wolle, und alle waren sehr froh darüber. Joie aber hatte durch eine Späherin erfahren, daß die Großen des Landes kommen würden, sie vor den König zu holen. Als sie dieses hörte, geriet sie in große Furcht und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie trennte sich von ihren Gefährtinnen, ohne daß diese es merkten, und eilte von Saal zu Saal. Endlich gelangte sie in einen Küchenraum, welcher mit der Hinterwand an einen Fluß grenzte. Alle die Küchenknechte waren ins Schloß gegangen, um dem Hoftag zuzuschauen, so daß Joie ganz allein war. Auf dem Anrichtetisch lag ein großes scharfes Küchenmesser, das ergriff sie und bat die Gottesmutter, daß sie ihr Kraft verleihe. Schon hörte sie, wie die Menge vor ihrer Kammer lärmte, wie man kam, um sie vor den König zu holen, da faßte sie das Messer fester und mit einem kräftigen Schlag trennte sie ihre linke Hand vom Arme und warf sie in den Fluß, dann schwanden ihr vor Schmerz die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, wickelte sie den Stumpf in ein Tuch und trat mit totenblassem Antlitz in ihre Kammer, wo vier Grafen ihrer warteten. »Eine gute Nachricht bringen wir Euch, Jungfrau,« redeten sie diese an, »freuet Euch, Ihr sollt Königin von Ungarn werden. Der König erwartet Euch im Schloß und trägt Euch durch uns auf, unverzüglich vor ihm zu erscheinen.« Schweigend und bleich folgte die Jungfrau den vier Grafen vor den König, eine Schar Mägde begleitete sie. Der König nahm Joie bei der Hand und umarmte sie, dann bemerkte er das Blut an ihrem Arm. »Tochter,« sprach er, »was ist Euch geschehen?« »Herr,« erwiderte sie, »wohl weiß ich, was Ihr von mir verlangen wollt, aber Königin werde ich nicht. Seht, mir fehlt die linke Hand, und nach unserem Gesetz darf ein König keine Frau ehelichen, der eines ihrer Glieder fehlt.« Als der König und die Barone den Stumpf sahen, da wurde ihre Freude in Leid verwandelt. Der König merkte wohl, daß sie solches aus freien Stücken getan hatte, um sich seinem Willen zu entziehen, und er befahl voll Zorn seinem Seneschall, daß er die Jungfrau heute über drei Tage zum Feuertode führe. Die Barone erschraken sehr, aber sie wagten nicht, ihren Kummer zu zeigen. Da ging der Hoftag in Trauer und Klagen auseinander, und der König zog sich auf ein fernes Schloß zurück. Der Seneschall blieb zurück, um Joie, die im Gefängnis schmachtete, zum Scheiterhaufen zu bringen. Die Nachricht, daß Joie verbrannt werden sollte, verbreitete sich im ganzen Lande, und besonders die Armen, denen sie oft Brot und Kleider gegeben hatte, waren von Zorn und Gram erfüllt. Der Seneschall beschloß, die Jungfrau zu retten; er ließ ein Fahrzeug mit Fleisch und Wein füllen, dann ließ er drei Rosse satteln, Joie mußte das eine besteigen und der Seneschall und der Kerkermeister ritten zu ihren Seiten. So verließen sie im Dunkel der Nacht die Stadt und ritten so lange, bis sie ans Ufer des Meeres kamen. Da sprach der Seneschall zu der Jungfrau: »Ihr wißt, Herrin, daß mir der König bei meinem Leben befahl, Euch ins Feuer zu werfen. Aber das Mitleid, das ich für Euch empfinde, läßt nicht zu, daß ich Euch unter solchen Qualen sterben sehe. Ich will Euch in einem segel- und mastlosen Boot aussetzen und Euch dem Schutze Gottes anheimstellen, er möge Euch geleiten und bewahren.« »Ich bin Euch dankbar,« versetzte die Jungfrau, »daß Ihr meinen Leib vor dem Feuer gerettet habt, denn lieber will ich ertrinken, wenn es Gott gefällt, als verbrennen. Ferner bitte ich den wahren Gott von Herzen, daß er meinem Vater die Sünde, die er an mir tat, vergeben möge, und daß er ihm mehr Freuden verleihen möge, als mir beschieden sind.« Der Seneschall führte sie weinend in das Schiff, dann befahl er sie Gott und der heiligen Jungfrau und stieß den Nachen ins Meer.
Am neunten Tage landete die Jungfrau mit Gottes Hilfe an der Küste Schottlands. Es war gerade Funkensonntag, und die Einwohner des Landes trieben Kurzweil am Meeresufer. Unter ihnen befand sich auch der Profoß. Er hatte sein Gesicht zum Meer gewendet und bemerkte den Nachen, der ohne Segel und Mast herantrieb. Als das Boot an Land kam, begab sich die Menge zum Strande und der Profoß begrüßte die Fremde: »Jungfrau, der wahrhaftige Gott gebe Euch Glück und Freude!« »Herr,« entgegnete sie, »der, den Ihr anrieft, möge Euch erhören!« »Jungfrau, berichtet uns, wo Eure Heimat und wie Euer Name ist!« »Herr, ich bin eine Unglückliche, die hier ans Ufer trieb. Wenn es Euch gefällt, so rettet mich; mehr kann ich Euch nicht sagen.« »Wenn Euch jemand Unrecht tat, Schöne, so seid Ihr hier in guter Hut. Ich will Euch zu meinem Herrn führen, der König in diesem Lande ist, er ist jung und schön. Bei seiner Mutter wird es Euch wohlergehen und an nichts fehlen.« Der Profoß nahm die Jungfrau mit sich heim und führte sie am anderen Tage nach Dondieu, wo der König mit seiner Mutter weilte. Dieser saß gerade mit zweiunddreißig seiner Barone bei der Tafel, als der Profoß, die Jungfrau an der Hand haltend, eintrat. »Herr,« sagte er, »eine schöne Beute bringe ich Euch hier. Nehmt sie, die ein Schiff hertrieb, in Gnaden auf!« Der König wandte sich liebevoll an die Fremde und fragte sie nach ihrer Herkunft und ihrem Schicksal, sie aber sagte, sie wolle lieber sterben, als ihr Unglück erzählen. Da der König ihre Tränen sah, drang er nicht weiter in sie, sondern führte sie seiner Mutter zu. So blieb sie am Hofe und wurde bald ihrer Güte und Schönheit wegen allgemein beliebt; da man aber ihren Namen nicht wußte, nannte man sie die Manekine, das heißt Einhand. Je länger sie am Hofe verweilte, in desto höherem Maße kehrte ihre frühere Schönheit wieder, und je schöner sie wurde, desto mehr fühlte sich der junge König zu ihr hingezogen, bis die Bande der Liebe, die ihn fesselten, so stark wurden, daß er sie nicht mehr zerreißen konnte. Auch ihr Herz war von Liebe erfüllt, aber keiner von beiden kannte die Gefühle des anderen.
So verging ihnen ein ganzes Jahr unter schlaflosen Nächten, aber der Königinmutter, welche das schlechteste und listenreichste Weib von der Welt war, entging es nicht, daß ihre Herzen Liebe zueinander trugen und sie sprach zornig zu Manekine: »Es scheint mir, daß mein Sohn dich von Herzen liebt. Ich verbiete dir, wenn dir dein Leben lieb ist, ihm in Zukunft Gesellschaft zu leisten. Ich werde dich töten lassen, wenn er sich noch einmal mit dir sehen läßt.« Als am dritten Tage der König wieder in ihr Zimmer trat, zitterte die Jungfrau vor Furcht und weinte. Der König merkte wohl, daß sie in Kummer war und er fragte sie nach der Ursache ihres Grams. Da erzählte sie ihm das Verbot der bösen Alten. »Freundin,« erwiderte er, »beruhigt Euch! Ich will Euch vor ihr schützen und will Euch nicht länger verheimlichen, was ich bisher verborgen hielt. So wißt denn, mein süßes Lieb, daß Ihr mein Herz und mein Leben seid, all mein Gut, meine Gesundheit und meine Freude, daß ich heute und immerdar Euch gehöre.« Die Jungfrau verbarg ihre Freude über diese Worte und antwortete züchtig und bescheiden, sie sei zwar zu niedrig für seine Liebe, doch wage sie nicht, eine so große Ehre auszuschlagen. Darauf küßte sie der König wohl zwanzigmal auf den Mund, dann führte er sie in sein Schloß und ließ den Kaplan rufen; dieser aber legte ihre Hände ineinander und vermählte sie. Als die Mutter dies erfuhr, sprach sie: »Verflucht sei er, wenn er sie genommen hat, und jeder, der ihn noch als König achtet. Gar zu niedrig hat er gehandelt, daß er eine Landstreicherin, eine Hergelaufene geheiratet hat, eine Frau mit nur einer Hand!« Vierzehn Tage darauf wurde Pfingsten gefeiert, und an diesem Tage wollte der König seine junge Gemahlin krönen lassen. Zu dieser Feier berief er alle seine Vasallen aus Schottland, Cornwall und Irland und die Nachricht von seiner Vermählung verbreitete sich pfeilgeschwind im ganzen Lande. Als die Nachtigallen sangen und die Wiesen blühten, da füllten die Ritter, die Grafen und Barone mit ihren Damen die Zelte, und drei Tage lang wurde die Hochzeit gefeiert. Die Mutter des Königs aber reiste am nächsten Tage voll Grimm auf ihr Landgut, denn sie glühte vor Neid und Haß gegen die junge Königin.
Fünf Monate mochten seitdem vergangen sein, da sprach der König eines Tages zu seiner Gemahlin: »Ich bitte Euch, liebe Freundin, daß Ihr mir um meiner Ehre willen eine Reise gewährt: in Frankreich findet ein großes Turnier statt, dem ich beiwohnen muß.« »Diese Reise erschreckt mich,« erwiderte die Manekine, »denn ich bin allein in diesem Lande und Eure Mutter haßt mich.« »Ich werde Euch in solcher Hut lassen, daß Ihr weder meine Mutter noch sonst jemanden zu scheuen braucht.« Der König hatte einen Seneschall, der sein treuester Ratgeber war, diesen berief er nebst zwei anderen Rittern zu sich und sprach: »Ihr Herren, ich gehe auf kurze Zeit in ein anderes Land, um Ehre und Ruhm zu erwerben. Ihr werdet bei der Königin bleiben und sie mit eurem Leben schützen. Vor allem werdet ihr sie vor meiner Mutter behüten, damit diese ihr kein Leids antut.« Darauf nahm er Abschied von seiner Gattin und trat mit großem Gefolge die Fahrt an.
Die Königin, welche ihn bis zum Meere begleitet hatte, kehrte in Gesellschaft ihrer drei Hüter zurück. Es gab nichts mehr auf der Welt, was sie erfreuen konnte, seit sie den Anblick ihres Gemahls entbehren mußte, doch sie tröstete sich, so gut sie es vermochte, wegen der Leibesfrucht, die sie trug. Endlich gebar sie den schönsten Knaben, den die Natur jemals gebildet hat. Überall im Lande verbreitete sich die Kunde, daß die Königin entbunden habe und der Seneschall berief seine zwei Gefährten zu sich: »Ihr Herren,« sagte er, »wir müssen unverzüglich einen Boten an den König nach Frankreich schicken, der ihm die erfreuliche Nachricht überbringe.« Darauf nahm er ein Pergament, denn er verstand Romanisch und Latein, und begann zu schreiben, wie folgt: »Dem Könige von Schottland, seinem Herrn, dem Gott Freude und Ehre gebe, entbietet Gruß und Freundschaft der Seneschall, den er zurückließ, sein Land und sein Weib zu schirmen. Ich tue Euch zu wissen, daß meine Herrin mit einem Knaben niederkam, wie ihn schöner kein Mensch je ersah, und Eure Liebste ist bei guter Gesundheit. Das Kindlein aber heißt Johannes. Solches tun wir Euch zu wissen. Aber kehrt um Gottes willen, wenn es Euch gefällt, schleunigst zurück, denn meine Herrin hat große Sehnsucht nach Euch und vergeht schier vor Gram.« Darauf versiegelte er den Brief und übergab ihn einem Boten. Dieser machte sich auf den Weg und gelangte am zweiten Tage nach Evoluic, wo die Mutter des Königs sich aufhielt. Der Bote trat in ihr Haus, denn er wußte nichts von dem Hasse, den sie gegen die junge Königin trug. Die Alte begrüßte den Boten und fragte ihn, wohin er gehe. Als sie den Zweck seiner Reise erfahren hatte, ließ sie ihm einen starken Wein reichen, und er trank so lange, bis er seiner Sinne nicht mehr mächtig war. Da lachte die böse Alte, und während der Trunkene schlief, durchsuchte sie seine Taschen, bis sie die Kapsel mit dem Briefe fand, dann rief sie ihren Schreiber und ließ sich den Brief vorlesen. Der Inhalt mißfiel ihr und sie ließ einen anderen anfertigen, in welchem zu lesen war, daß der Seneschall seinem Herrn Gruß entbiete und daß er ihm voll Zorn und Schmerz unfrohe Nachricht zu wissen tue: »Herr, Eure Gattin hat entbunden, aber nie im Leben sah man ein so scheußliches Geschöpf wie das, welches sie unter ihrem Herzen trug. Es hat vier Füße, ist ganz behaart und seine Augen liegen tief im dicken Kopf. Sobald es geboren war, entschlüpfte es wie eine Schlange seinen Wärterinnen, und diese wagten kaum, es wieder zu ergreifen. Alle Eure Untertanen sind in Schrecken und Verwunderung. Nun tut uns Euren Willen kund, was mit einem solchen Erben geschehen soll.« Darauf versiegelte sie den Brief wieder, legte ihn in die Kapsel und trug diese wieder dahin, wo sie sie gefunden hatte. Als der Bote ausgeschlafen hatte, machte er sich wieder auf den Weg, und die böse Alte befahl ihm, auf dem Rückwege wieder bei ihr vorzusprechen.
Der Bote gelangte nach Frankreich, suchte seinen Herrn auf und übergab ihm den Brief. Der König brach das Siegel auf und fast schwanden ihm die Sinne, als er den Inhalt des Schreibens las. Damit die Leute seine Verwirrung nicht bemerken sollten, zog er sich in sein Gemach zurück und las den Brief immer wieder von neuem. Er raufte seine Haare, zerriß sein Gewand, und Tränen entströmten seinen Augen. Als er sich ein wenig beruhigt und mit seinen Begleitern Rats gepflogen hatte, nahm er Pergament und Tinte und schrieb: »Der König von Schottland gebietet den dreien, denen er seine Geliebte in Hut gab, daß diese in ihrem Wochenbette gut gepflegt werde. Wenn ihnen ihr Leben lieb ist, sollen sie seine teure Gattin und das, was sie geboren hat, so wert halten wie ihren eignen Leib. Zu Fasten wird der König zurückkehren und dann seinen weiteren Willen kundtun.« Darauf versiegelte er den Brief und übergab ihn dem Boten, welcher sogleich den Rückweg antrat.
Als die böse Alte ihn kommen sah, war sie sehr froh; sie erwiderte freundlich seinen Gruß und fragte ihn nach dem Wohlergehen des Königs. Darauf ließ sie ihm wieder starken Wein auftragen, und er trank so lange, bis er vor Trunkenheit in Schlaf verfiel. Als die dunkle Nacht gekommen war, schlich sich die Alte in die Kammer des Boten, nahm ihm den Brief und ließ ihn sich von ihrem Schreiber vorlesen. Als sie hörte, daß der König seine Heimkehr zu Fasten in Aussicht stellte und daß bis dahin die Manekine gut gepflegt, bedient und geehrt werden sollte und ihre Leibesfrucht mit ihr, da wurde sie mißmutig und ließ sogleich ein anderes Schreiben aufsetzen. Der Schreiber mußte antworten, daß der König seinem Seneschall gebiete, er solle unverzüglich die Königin zum Feuertode führen, sobald sie ihr Wochenbett verlassen habe, und mit ihr das, was sie geboren habe. Denn er habe wenig erfreuliche Neuigkeiten über die Manekine erfahren, wohl wisse er, warum sie nur eine Hand habe und nicht umsonst sei sie so verstümmelt. »Verbrennt sie ohne Zaudern, wenn Euch Euer Leben lieb ist!« so schloß das Schreiben. Als es vollendet war, legte der Schreiber das Wachs wieder auf, ohne daß das Siegel verletzt wurde und verschloß den Brief in die Kapsel des schlafenden Boten.
Nach dreimonatlicher Abwesenheit kehrte der Bote nach Dondieu zurück und überreichte dem Seneschall das Schreiben. Die drei Beschützer erkannten das Siegel des Königs und erbrachen den Brief, als sie ihn aber gelesen hatten, da verwunderten sie sich sehr und weinten und seufzten. Dann berieten sich die drei Getreuen untereinander und sprachen: »Den Willen unseres Herrn müssen wir erfüllen, wenn wir auch Kummer und Mitleid im Herzen tragen.« Die Nachricht, daß der König befohlen habe, sein Weib und sein Kind zu verbrennen, verbreitete sich bald im Lande und alles Volk verwunderte sich und fluchte dem König. Der Königin aber verheimlichte man den Befehl, bis sie ihr Wochenbett, das einen vollen Monat dauerte, verlassen hatte. Eines Tages rief sie den Seneschall zu sich und sprach: »Seneschall, mein Herz ist gramerfüllt über das lange Ausbleiben meines geliebten Herrn. Ist der Bote noch nicht zurück? Wisset, daß mein Herz schlimme Nachricht ahnt. Ich werde nie mehr froh sein, bis ich meinen Herrn wiedersehe. Oh, sagt es mir, wenn Ihr etwas von ihm wißt!« Der Seneschall antwortete mit Tränen in den Augen: »Oh, liebe Frau, es ist so weit gekommen, daß der König Euch haßt, wenn ich auch nicht weiß, warum. Lange haben wir es Euch verheimlicht, aber einmal müßt Ihr es erfahren. Unser Herr hat uns wissen lassen, daß wir, wenn uns unser Leben lieb ist, Euch und Euren Knaben auf dem Scheiterhaufen verbrennen müssen. Da er zu den Fasten zurückkehrt und Euch dann nicht mehr lebend vorfinden will, so muß innerhalb dreier Tage sein Befehl vollzogen sein.« Da erschrak die junge Königin und ihr Herz krampfte sich zusammen. »Was habe ich getan, großer Gott,« klagte sie, »daß ich so harten Tod erleiden soll? Womit hat es mein Kind verdient, daß es sterben muß?« Dann fiel sie vor dem Seneschall auf die Knie und bat ihn, ihr Kind zu schonen, wenn er auch mit ihr täte, was er wolle. Der Seneschall versprach ihr, sich mit seinen beiden Gefährten zu beraten. Da besprachen sie sich miteinander, und der Seneschall riet, sie wollten die Manekine so ziehen lassen, wie sie gekommen sei, auf einem mast- und segellosen Schiff, und sie der Hut Gottes anheimstellen. Ferner wollten sie Bilder aus Holz schnitzen lassen, die der Königin und ihrem Söhnlein glichen und diese vor allem Volke verbrennen, damit sie sich vor Strafe bewahrten. Als diese Vorbereitungen beendet waren, hießen sie die Königin mit ihrem Kind auf einen Zelter steigen und führten sie in die Verbannung. Am dritten Tage kamen sie an das Ufer des Meeres, wo das Schiff bereit stand. »Lieber Herr,« sagte die Königin, »ich danke Euch, daß Ihr mich vor dem Feuer bewahrt habt. Ich bitte Euch, grüßt meinen Herrn, den König, und sagt ihm, daß ich ihn immer noch über alles auf der Welt liebe. Gott vergebe ihm seine Schuld und schenke ihm Ehre und Glück. Sehet, die Liebe der Menschen ist eitel, so verleihe mir Gott seine Huld, die unwandelbar ist und ohne Haß.« Der Seneschall führte sie weinend in das Schiff, dann befahl er sie Gott und der heiligen Jungfrau und stieß den Nachen ins Meer.
Am neunten Tage landete die Barke am Ufer des Tiber. Ein Senator nahm die Manekine mit ihrem Kinde auf. Als der König heimkehrte, erfuhr er den Betrug und ließ seine Mutter lebendig einmauern, dann machte er sich auf die Suche nach seiner Frau. Nach siebenjähriger Wanderung gelangte er nach Rom und der Trauring führte das Wiedererkennen zwischen den beiden Gatten herbei. In Rom fand sich auch Joiens Vater ein, welcher, von Gewissensbissen gequält, beim Papst Vergebung für seine Sünden suchen wollte. Schließlich fand die Königin durch ein Wunder in einer Quelle ihre abgehauene Hand, welche auf das Gebet des heiligen Vaters sich wieder mit ihrem Arm vereinigte.
Quelle: Ernst Tegethoff - Französische Volksmärchen