Zunächst wünsche ich Euch allen einen geselligen oder auch ruhigen Silvesterabend. Und selbstverständlich wünsche ich allen Menschen auf dieser Welt ein erfolgreiches Neues Jahr. Mögen sich all unsere großen aber auch kleinen Wünsche in diesem Jahr 2020 endlich erfüllen. Die Aussicht ist hervorragend!
Hier noch ein Gedicht, das sehr gut in die heutige Zeit passt. Nehmt es nicht zu negativ, denn sicher finde ich für Euch auch ein positives Gedicht zum Neujahrstag.
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Silvester
Mein Fenster öffnet sich um Mitternacht,
Die Glocken dröhnen von den Türmen nieder,
Die Berge leuchten rings in Flammenpracht,
Und aus den dunklen Gassen hallen Lieder.
Will mir der Lärm, will mir der blut'ge Schein
Des nahen Völkerkriegs Erwachen deuten? -
Noch ist die Saat nicht reif. Die Glocken läuten
Dem neuen Jahr. - Wird es ein beßres sein?
Ein neues Jahr, in dem mit blassem Neid
Die Habsucht und die Niedertracht sich messen;
Ein neues Jahr, das nach Vernichtung schreit;
Ein neues Jahr, in dem die Welt vergessen,
Daß sie ein Altar dem lebend'gen Licht;
Ein neues Jahr, des dumpfe Truggewalten
Den Adlerflug des Geistes niederhalten;
Ein neues Jahr! - Ein beßres wird es nicht.
Von Goldgier triefend und von Gaunerei,
Die Weltgeschichte, einer feilen Dirne
Vergleichbar, kränzt mit Weinlaub sich die Stirne,
Und aus der Brust wälzt sich ihr Marktgeschrei:
Herbei, ihr Kinder jeglicher Nation;
An Unterhaltung ist bei mir nicht Mangel.
Im Internationalen Tingeltangel,
Geschminkt und frech, tanz' ich mir selbst zum Hohn.
Den heil'gen Ernst der menschlichen Geschicke
Wandl' ich zur Posse, daß ihr gellend lacht;
Den Freiheitsdurst'gen brech' ich das Genicke,
Damit mein Tempel nicht zusammenkracht.
Ich bin der Friede , meine holden Blicke
Besel'gen euch in ew'ger Liebesnacht;
Wärmt euch an mir und schlaft bei meinem Liede
Sanft und behaglich ein; ich bin der Friede!
Drum segne denn auch für das künft'ge Jahr
Gott euren süßen Schlaf. Das Todesröcheln
Des Bruders auf der Freiheit Blutaltar
Verhallt, wenn meine fleisch'gen Lippen lächeln.
Nur wenn der eigne Geldsack in Gefahr,
Dann tanz' ich mit den schellenlauten Knöcheln
Sofort Alarm, damit euch eure Schergen
Zu den geraubten neue Schätze bergen.
Warum schuf Gott den Erdball rund, warum
Schuf Krupp'sche Eisenwerke er in Essen,
Als daß den Heiden wir mit Christentum
Und Schnaps das Gold aus den Geweiden pressen.
Ein halb Jahrtausend ist das nun schon Mode,
Doch sehr verfeinert hat sich die Methode:
Kauf oder stirb! Wer seines Goldes bar,
Den plagt dann ferner auch kein Missionar.
Ich bin der Friede, meine Schellen läuten,
Sobald des Menschen Herz sich neu belebt,
Und meine Füße, die den Tod bedeuten,
Zerstampfen, was nach Licht und Freiheit strebt.
Ich bin der Friede, und so wahr ich tanze
Auf Gräbern in elektrisch grellem Glanze,
Es fällt zum Opfer mir das künft'ge Jahr,
Wie das geschiedne mir verfallen war!
So sang die Göttin. Aber Gott sei Dank,
Noch eh sie dirnenhaft von hinnen knixte,
Gewahrt' ich, daß die üpp'ge Diva krank
Und alt, so rot sie sich die Wangen wichste,
Daß schon der Tod ihr selbst die Brust gehöhlt;
Und tausend Bronchien rasselten im Chore:
Der rote Saft sprengt dieses Leichnams Tore,
Eh er noch einmal seine Jahre zählt.
Dann wurden unterird'sche Stimmen laut:
Der Mensch sei nicht zum Knecht vor goldnen Stufen,
Es sei zum Herrscher nicht der Mensch berufen,
Der Mensch sei nur dem Menschen angetraut.
Ein dumpfes Zittern, wie aus Katakomben,
Erschütterte den Boden. Alsogleich
Ward jeden Gastes Antlitz kreidebleich:
Bewahr' uns Gott vor Anarchie und Bomben!
Ich aber denke: Eh ein Jahr vergeht,
Vergeht die Kirchhofsruhe. Böse Zeichen
Verkünden einen Krieg, der seinesgleichen
Noch nicht gehabt, solang die Erde steht.
Noch ist die Saat nicht reif, doch wird sie reifen,
Und Habgier gegen Habgier greift zum Schwert;
Es wird der Bruder, seines Bruders wert,
Dem Bruder mörd'risch nach der Kehle greifen.
Die Glocken sind verhallt, verglommen sind
Die Feuerbrände und verstummt die Lieder;
Die alte, ew'ge, blinde Nacht liegt wieder,
Wie sie nur je auf Erden lag, so blind;
Und doch hängt das Geschick an einem Haar
Und läßt sich doch vom Klügsten nicht ergründen.
Wie werden diese Welt wir wiederfinden,
Wenn wir sie wiederfinden, übers Jahr?
Frank Wedekind (1864 - 1918), deutscher Journalist und Dramatiker
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