Goldtöchterchen
Vor dem Tor, gleich an der Wiese, stand ein Haus, darin wohnten zwei Leute, die hatten nur ein einziges Kind, ein ganz kleines Mädchen. Das nannten sie Goldtöchterchen. Es war ein liebes, kregles kleines Ding, flink wie ein Wiesel. Eines Morgens geht die Mutter früh in die Küche, Milch zu holen; da steigt das Ding aus dem Bett und stellt sich im Hemdchen in die Haustüre. Nun war ein wunderherrlicher Sommermorgen, und wie es so in der Haustüre steht, denkt es: „Vielleicht regnet’s morgen; da ist’s besser, du gehst heute spazieren.“ Wie’s so denkt, geht’s auch schon; läuft hinters Haus auf die Wiese und von der Wiese bis an den Busch. Wie’s an den Busch kommt, wackeln die Haselbüsche ganz ernsthaft mit den Zweigen und rufen:
„Nacktfrosch im Hemde,
Was willst du in der Fremde?
Hat kein‘ Schuh und hast kein‘ Hos,
Hast ein einzig Strümpfel bloß;
Wirst du noch den Strumpf verlier’n,
Mußt du dir ein Bein erfrier’n.
Geh nur wieder heime;
Mach dich auf die Beine!“
Aber es hört nicht, sondern läuft in den Busch, und wie es durch den Busch ist, kommt es an den Teich. Da steht die Ente am Ufer mit einer vollen Mandel Junger, alle goldgelb wie die Eidotter, und fängt entsetzlich an zu schnattern; dann läuft sie Goldtöchterchen entgegen, sperrt den Schnabel auf und tut, als wenn sie es fressen wollte. Aber Goldtöcherchen fürchtet sich nicht, geht gerade darauf los und sagt:
„Ente du Schnatterlieschen,
Halt doch den Schnabel und schweig ein bißchen!“
„Ach“, sagt die Ente, „du bist’s, Goldtöchterchen! Ich hatte dich gar nicht erkannt; nimm’s nur nicht übel! Nein, du tust uns nichts. Wie geht es dir denn?Wie geht es denn deinem Herrn Vater und deiner Frau Mutter? Das ist ja recht schön, daß du uns einmal besuchst. Das ist ja eine große Ehre für uns. Da bist du wohl recht früh aufgestanden? Also, du willst dir wohl auch einmal unsern Teich besehen? Eine recht schöne Gegend! Nicht wahr?“
Wie sie ausgeschnattert hat, fragt Goldtöchterchen: „Sag einmal, Ente, wo hast du denn die vielen kleinen Kanarienvögel her?“
„Kanarienvögel?“ wiederholt die Ente, „ich bitte dich, es sind ja bloß meine Jungen.“
„Aber sie singen ja so fein und haben keine Federn, sondern bloß Haare! Was bekommen denn deine kleinen Kanarienvögel zu essen?“
„Die trinken klares Wasser und essen feinen Sand.“
„Davon können sie ja aber unmöglich wachsen.“
„Doch, doch“, sagt die Ente; „der liebe Gott segnet’s ihnen; und dann ist auch zuweilen im Sand ein Würzelchen und im Wasser ein Wurm oder eine Schnecke.“
„Habt ihr denn keine Brücke?“ fragt dann weiter Goldtöchterchen.
„Nein“, sagt die Ente, „eine Brücke haben wir nun allerdings leider nicht. Wenn du aber über den Teich willst, will ich dich gern hinüberfahren.“
Darauf geht die Ente ins Wasser, bricht ein großes Wasserrosenblatt ab, setzt Goldtöchterchen darauf, nimmt den langen Stengel in den Schnabel und fährt Goldtöchterchen hinüber. Und die kleinen Entchen schwimmen munter nebenher.
„Schönen Dank, Ente!“ sagte Goldtöchterchen, als es drüben angekommen ist.
„Keine Ursache“, sagt die Ente. „Wenn du mich mal wieder brauchst, steh ich gern zu Diensten. Empfiehl mich deinen Eltern. Schön adje!“
Auf der anderen Seite des Teiches ist wieder eine große grüne Wiese, auf der geht Gold-töchterchen weiter spazieren. Nicht lange, so sieht es einen Storch, auf den läuft’s gerade zu: „Guten Morgen, Storch“, sagt’s; „was ißt du denn, was so grünscheckig aussieht und dabei quakt?“
„Zappelsalat“, antwortet der Storch, „Zappelsalat, Goldtöchterchen!“
„Gib mir auch was, ich bin hungrig!“
„Zappelsalat ist nichts für dich“, sagt der Storch; geht an den Bach, taucht mit seinem langen Schnabel tief unter und holt erst einen goldenen Becher mit Milch und dann eine Wecke heraus. Darauf hebt er den rechten Flügel und läßt eine Zuckertüte herunterfallen. Goldtöchterchen läßt sich’s nicht zweimal sagen, sondern setzt sich hin und ißt und trinkt. Wie’s satt ist, sagt’s:
„Ein’n schönen Dank,
Und gute Gesundheit dein Leben lang!“
Darauf läuft’s weiter. Nicht lange, so kommt ein kleiner blauer Schmetterling geflogen. „Kleines Blaues“, sagt Goldtöchterchen, „wollen wir uns ein wenig haschen?“ „Ich bin’s zufrieden“, antwortet der Schmetterling, „aber du darfst mich nicht angreifen, damit nichts abgeht.“
Nun haschten sie sich lustig auf der Wiese herum, bis es Abend wird. Wie es anfängt zu dämmern, setzt sich Goldtöchterchen hin und denkt, jetzt willst du dich ausruhen; dann gehst du nach Hause. Wie’s so sitzt, merkt’s, daß die Blumen im Grase auch schon alle müde sind und einschlafen wollen. Das Gänseblümchen nickt ganz schläfrig mit dem Kopfe, richtet sich dann auf, sieht sich mit gläsernen Augen um, und dann nickt’s noch einmal. Da steht eine weiße Aster daneben (und das war jedenfalls die Mutter) und sagt:
„Gänseblümchen, mein Engelchen,
Fall nicht vom Stengelchen!“
„Geh zu Bett, mein Kind.“ Und das Gänseblümchen duckt sich hin und schläft ein. Dabei verschiebt sich’s das weiße Mützchen, daß ihm die Spitzen gerade übers Gesicht fallen. Darauf schläft die Aster auch ein.
Wie Goldtöchterchen sieht, daß alles schläft, fallen ihm die Augen auch zu. Da liegt es nun auf der Wiese und schläft, und mittlerweile läuft seine Mutter immer noch im ganzen Hause umher und sucht’s und weint. Sie geht in alle Kammern und sieht in alle Winkel, unter alle Betten und unter die Treppe. Dann geht sie auf die Wiese bis an den Busch und durch den Busch bis an den Teich. „Über den Teich kann es nicht gekommen sein“, denkt sie und geht wieder zurück und durchsucht noch einmal alle Winkel und Ecken und sieht unter alle Betten und unter die Treppe. Wie sie damit fertig ist, geht sie wieder auf die Wiese und wieder in den Busch und wieder bis an den Teich. Das tut sie den ganzen Tag, und je länger sie es tut, desto mehr weint sie. Der Mann aber läuft unterdes in der ganzen Stadt umher und fragt, ob niemand Goldtöchterchen gesehen hat.
Als es aber ganz dunkel geworden war, kam einer von den zwölf Engeln, die jeden Abend über die ganze Welt hinwegfliegen müssen, um nachzusehen, ob sich nicht irgendwo ein kleines Kind verlaufen hat, und es wieder zu seiner Mutter zu bringen, auch auf die grüne Wiese. Als er Goldtöchterchen hier liegen und schlafen sah, hob er es behutsam auf, ohne es zu wecken, flog bis über die Stadt und sah nach, in welchem Hause noch Licht war. „Das wird wohl das Haus sein, wo’s hingehört“, sagte er, als er das Haus von Goldtöchterchens Eltern sah, und das Licht im Wohnzimmer brannte immer noch. Heimlich sah er zum Fenster hinein: Da saßen Vater und Mutter sich an dem kleinen Tische gegenüber und weinten, und unter dem Tisch hielten sie sich die Hände. Da öffnete er ganz leise die Haustüre, legte das Kind unter die Treppe und flog fort.
Und die Eltern saßen immer noch am Tisch. Da stand die Frau auf, zündete noch ein Licht an und leuchtete noch einmal in alle Winkel und Ecken und unter die Betten.
„Frau“, sagte der Mann traurig, „du hast ja schon so oft vergeblich in alle Winkel und Ecken und unter die Treppe gesehen. Geh zu Bett. Unser Goldtöchterchen wird wohl in den Teich gefallen und ertrunken sein.“
Doch die Frau hörte nicht, sondern ging weiter, und wie sie unter die Treppe leuchtete, lag das Kind da und schlief. Da schrie sie vor Freude so laut auf, daß der Mann eilends die Treppe herabgesprungen kam. Mit dem Kinde auf dem Arm kam sie ihm freudestrahlend entgegen. Es schlief ganz fest, so müde hatte es sich gelaufen.
„Wo war es denn? Wo war es denn?“ rief er.
„Unter der Treppe lag’s und schlief“, erwiderte die Frau, „und ich habe doch heute schon so oft unter die Treppe gesehen.“
Da schüttelte der Mann mit dem Kopfe und sagte: „Mit rechten Dingen geht’s nicht zu, Mutter; wir wollen nur Gott danken, daß wir unser Goldtöchterchen wieder haben!“
Quelle: Richard von Volkmann-Leander, Träumereien an französischen Kaminen
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