Der goldene Adler
Der König von Aragonien hatte ein Töchterchen mit Namen Helena, das so jung, schön, liebenswürdig, wohlgesittet und verständig war, wie man es sich nicht liebenswerter vorstellen konnte. Der Ruhm dieses edlen Wesens erleuchtete das ganze Land, und viele wackere Herren begehrten sie zur Frau; der Vater aber verweigerte sie allen und wollte sie nicht von sich lassen. Einmal erfuhr der Sohn des Kaisers, Arrighetto, von der Schönheit dieser Prinzessin und entflammte in Liebe zu ihr. Von Stund an hatte er keinen andern Gedanken als die Frage, wie er sie zur Frau bekommen könne, und verfiel rasch auf den folgenden Plan: Er hatte bei sich einen Goldschmied, den größten Meister, der sich finden ließ, und ließ sich von ihm einen prächtigen Adler anfertigen, der so groß war, dass ein Mensch darin stehen und sich verbergen konnte. Als nun dieser Adler fertig war, prächtig und meisterhaft, dass man ihn kaum beschreiben kann, gab er ihn dem Goldschmied, der ihn hergestellt hatte, mit den Worten: „Reise mit diesem Adler nach Aragonien, richte dort eine Bude ein mit deinen Kunstwerken auf dem Platz gegenüber vom Schloss, in dem die Königstochter wohnt, stelle den Adler täglich auf die Bank hinaus und sage, du wollest ihn verkaufen. Ich werde zur selben Zeit hinkommen. Tue also, was ich dir sage, und kümmere dich um nichts weiter.“
Der Goldschmied trug seine Arbeit weg, steckte viel Geld zu sich und zog nach Aragonien, woselbst er eine Bude gegenüber dem Königspalast errichtete, und setzte die Arbeit an seinem Meisterstück fort. An gewissen Tagen der Woche stellte er seinen Adler aus. Und die ganze Stadt lief herzu, das Werk anzusehen, so wunderbar und schön war dieses.
Eines Tages nun schaute die Königstochter zum Fenster hinaus, sah den Adler und ließ ihrem Vater sagen, sie möchte ihn gern als Schmuckstück besitzen. Der Vater ließ bei dem Meister wegen des Kaufpreises anfragen. Inzwischen war Arrighetto bereits angekommen und hielt sich insgeheim beim Goldschmied auf, der sich mit ihm über den Preis besprach. Da sagte Arrighetto zu dem Meister: „Gib zur Antwort, du mögest ihn nicht verkaufen, doch wenn er der Prinzessin gefalle, wollest du ihr ihn gern zum Geschenk machen.“ Also ging der Goldschmied zum König und sprach: „Mein Gebieter, ich möchte den Adler nicht verkaufen; aber wenn er Euch gefällt, so nehmt ihn bitte, ich mache Euch gern ein Geschenk damit.“ Der König sprach: „So laßt ihn herauf bringen, wir werden dann schon miteinander einig werden.“ Der Meister erwiderte: „Es soll geschehen.“ Hernach kehrte er zu Arrighetto zurück und brachte ihm die Nachricht, der König wolle den Adler sehen. Da kroch Arrighetto alsbald in den Vogel hinein und nahm einige feine Eßwaren mit, die der Natur aufhelfen konnten, dann machte er den Vogel inwendig so zurecht, dass man ihn nach Belieben öffnen und schließen konnte, und endlich ließ er ihn vor den König bringen. Als dieser das schöne Stück sah, übergab er es seiner Tochter, und der Goldschmied stellte es in ihrem Schlafgemach neben dem Bett des Fräuleins auf.
Als das geschehen war, sprach er zu ihr: „Madonna, deckt das Schmuckstück mit nichts zu. Es ist nämlich aus einer Art Gold, das, sobald man es zudeckt, schwarz wird und seinen Glanz verliert.“ Weiter setzte er noch hinzu: „Madonna, ich werde oft hier herkommen, um nach dem Kunstwerk zu sehen.“ Das Fräulein entgegnete freimütig, dass ihr das ganz recht sei. So kehrte der Goldschmied zum König zurück und meldete ihm, der Vogel gefalle dem Fräulein sehr. „Und“, setzte er hinzu, „ich will machen, dass er ihr noch mehr gefällt, denn ich arbeite gerade an einer Krone, die der Adler auf dem Kopf tragen soll.“ Dem König bereitete das große Freude. Er ließ eine Menge Geld herbeibringen und sprach: „Meister, bezahle dich selbst nach deinem Gutdünken.“ – „Gnädiger Herr“, versetzte der Goldschmied, „ich bin schon bezahlt, da ich Eure Huld besitze.“ Und so sehr ihm der König auch zuredete, konnte er ihm keinerlei Geld aufdrängen, denn dieser wiederholte immer: „Ich bin schon bezahlt.“
Als aber in der Nacht die Prinzessin Helena im Bett lag und schlief, schlüpfte Arrighetto aus dem Vogel, schlich leise ans Bett, in dem die lag, die er mehr liebte als sich selber, und küßte sanft ihre weiße und rote Wange. Das Mädchen erwachte aus seinem Schlummer, hatte eine unsägliche Angst und fing an zu beten: „Salve regina misericordia.“ Und zitternd rief sie nach Hilfe, während Arrighetto schleunigst in den Vogel zurückkehrte. Eine Kammerfrau stand auf und sagte: „Was wollt Ihr?“ – „Ich habe einen gespürt“, rief die Prinzessin, „der mir das Gesicht berührte.“ Nun durchsuchte die Kammerfrau das ganze Zimmer, sah und hörte aber nichts. Und weil sie nichts fand, kehrte sie wieder in ihr Bett zurück und dachte sich: ‚Sie hat sicher geträumt.‘
Nach einer Weile kam Arrighetto wieder ganz vorsichtig an ihr Bett, küßte sie mit vieler Zärtlichkeit und sprach leise: „Teure Seele, erschrick nicht!“ Das Fräulein erwachte und stieß einen lauten Schrei aus. Die Kammerfrauen standen auf und sagten: „Was hast du? Wahrscheinlich hast du nichts als Träume.“ Arrighetto hatte sich schnell wieder im Adler versteckt. Die Zofen untersuchten Tür und Fenster, fanden sie jedoch verschlossen, und da sie nichts sahen, hüben sie an, die Prinzessin zu schelten, und sprachen: „Wenn du dich nochmals rührst, so sagen wir es deiner Hofmeisterin. Was sind das auch für Torheiten, dass du uns nicht willst schlafen lassen! Das ist schon eine schöne Sitte, in der Nacht zu schreien. Verhalt dich jetzt ruhig und mach, dass du schläfst, damit wir auch schlafen können.“
Da fürchtete sich das Mägdlein, und nach einer Weile, als es Arrighetto an der Zeit zu sein schien, kam er wieder aus seinem Vogel hervor, trat leise an das Bett und sagte: „Meine Helena, schrei nicht und hab keine Angst!“ Sie fragte: „Wer bist du?“ – „Ich bin der Sohn des Kaisers“, erwiderte dieser. „Wie bist du denn hier hereingekommen?“ forschte sie weiter. „Das will ich dir sagen, verehrungswürdige Dame“, versetzte der andre. „Es ist schon lange Zeit her, dass ich mich in dich verliebte, weil ich deine Schönheit rühmen hörte. Und oftmals bin ich schon hergekommen, um dich zu sehen, aber umsonst. Und weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, habe ich diesen Adler herstellen lassen, und in diesem bin ich hergekommen, nur um mit dir reden zu können. Und darum bitte ich dich, dass es dir gefallen möge, Erbarmen mit mir zu haben, weil ich auf Erden nichts Lieberes besitze als dich, und siehe, ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt um deinetwillen!“
Als das schöne Mädchen die holden Worte hörte, die Arrighetto zu ihr sagte, wandte sie sich zu ihm, umarmte ihn und sprach: „In Anbetracht dessen, was du um meinetwillen gewagt hast, wäre es eine große Schändlichkeit von mir, wenn ich mich dafür nicht dankbar zeigte. Darum bin ich einverstanden, dass du mit mir verfahrest nach deinem Willen. Zuvor aber möchte ich doch wissen, wie du aussiehst. Darum kehre an deinen Ort zurück und sei ohne Sorgen, denn morgen will ich tun, als wünschte ich zu schlafen, und die Kammertür schließen. Dann bleibe ich allein, und dann können wir einander sehen und ausführlicher miteinander reden.“
Arrighetto gab ihr zur Antwort: „Madonna, und wenn ich jetzt sterben sollte, so bin ich doch froh, dass du mich zu deinem Diener angenommen hast. Doch möge es dir gefallen, mich zum Beweis dessen ein einziges Mal zu küssen.“ Das edle Fräulein küßte ihn anmutig, denn sie fühlte schon im Herzen Flammen der brennenden Liebe. Darauf kehrte Arrighetto in den Vogel zurück.
Am folgenden Tag sagte das Fräulein, sie wolle schlafen, denn es schien ihr tausend Jahre zu dauern, bis sie endlich ihren Arrighetto sehen konnte. Sie schickte also die Kammerfrauen hinaus, verriegelte die Zimmertür und trat zu dem Vogel, aus dem Arrighetto alsbald hervorkam und sich vor ihren Fußen verneigte. Und als sie sah, wie rüstig und schön er war, fiel sie ihm um den Hals, und er Schloss sie in seine Arme: „Jetzt bin ich“, sprach er, „der glücklichste Mensch auf der Welt, denn nun wird mir die Freude zuteil, nach der ich mich so lange Zeit gesehnt habe.“ Alsdann erzählte er ihr seine ganze Abstammung und wer er war und schenkte ihr so süße und holde Worte, dass sie duftigen Veilchen glichen, vermischt mit innigen Küssen. Ich kann das Liebesglück nicht schildern, das sie miteinander erlebten. Und auf diese Weise blieben sie mehrere Tage und Nächte beisammen. Das Fräulein versorgte ihn unterdessen mit Süßigkeiten und Weinen, dass er sich im Himmel glaubte. Auch kam der Goldschmied häufig, um nach dem Adler zu schauen, und fragte jeweils den Prinzen, ob er nichts wünsche; dieser antwortete aber jedes Mal: „Nein.“
Eines Tages jedoch sagte Arrighetto zu der Dame: „Ich wünsche, dass wir zusammen nach Deutschland gehen in unser Haus.“ – „Mein lieber Arrighetto“, erwiderte die Frau, „ich bin zufrieden mit dem, was dir gefällt.“ Da entgegnete der Prinz: „So will ich weggehen und mit einem Schiff in die Nähe jener Burg am Meeresufer fahren, die deinem Vater gehört. Dort will ich in einer bestimmten Nacht auf dich warten. Dann musst du zu deinem Vater sagen, du wolltest spazieren gehen, um die Meeresküste zu sehen. Alsdann erwartest du mich in dem genannten Schloss. Ich komme in der Nacht dorthin, hole dich auf mein Schiff, und wir reisen von dannen.“ Die Frau sprach: „So sei es.“ Danach ließ sie den Goldschmied rufen und sprach zu ihm: „Trag diesen Adler weg und mach mir die Krone darauf, so dass sie fertig ist, bis ich wiederkomme.“ Der Meister sprach: „Wenn der König es will, bin ich einverstanden“, und die Prinzessin sprach: „Tu, was ich dir sage.“ Und der Goldschmied ließ den Vogel wieder in seine Werkstatt bringen. Als es dann Zeit war, schlüpfte Arrighetto heraus, nahm Abschied von dem Meister und zog heimlich fort in sein Land. Dort gab er Befehl, ein schönes Schiff auszurüsten samt einigen bewaffneten Galeeren, die zu dessen Verteidigung dienen sollten. Damit stach er in See und fuhr an die Meeresburg des Königs von Aragon, wie sie verabredet hatten.
Unterdessen sagte das Fräulein zu ihrem Vater: „Lieber Vater, ich möchte gern an den Hafenplatz gehen, um den Meeresstrand zu sehen, und einige Tage auf Eurer Burg daselbst zubringen.“ Der Vater war es zufrieden und ließ ihr zur Gesellschaft viele Damen und Fräulein mitgeben, damit sie am Meer mit ihr spazieren gingen. Also begab sich die Prinzessin mit ihrem Gefolge auf die Burg und wartete mit großer Freude auf Arrighetto, indem sie Gott bat, er möge bald kommen. Den ganzen Tag schaute sie nun auf das Meer hinaus, ob sie sein Schiff nicht sehe.
In einer Nacht aber, zur bezeichneten Stunde, kam Arrighetto unten an der Burg an. Die Frau stieg alsbald zu ihm hinunter und umarmte ihn, und unverweilt bestiegen sie das Schiff, spannten die Segel auf und fuhren mit Gottes Hilfe von hinnen, und Arrighetto brachte sie in seine Heimat. Als man am andern Morgen die Prinzessin nicht fand, entstand ein großer Lärm, und es wurde dem König gemeldet, es seien Seeräuber in die Nähe der Burg gekommen und hätten seine Tochter entführt. Der König war darüber schwer betrübt, denn er hielt seine Tochter für verloren. Und da er von dem wirklichen Sachverhalt nichts wusste, schickte er einen seiner Söhne aus und sprach zu ihm: „Ich befehle dir bei Todesstrafe, nicht eher zu mir zurückzukehren, bis du erfahren hast, wo sie ist und wer sie geraubt hat.“
Der Bruder begab sich auf See, folgte jenem Schiff nach und hörte und erfuhr, dass sie des Kaisers Sohn mitgenommen habe. Und sobald er sich dieser Tatsache vergewissert hatte, kehrte er zum Vater zurück und berichtete ihm, der Sohn des Kaisers sei in eigener Person hergekommen und habe sie gestohlen. Da machte der König große Heeresausrüstungen, um auszuziehen und den Feind in Deutschland selber zu befehden. Und er bot dazu auf die Könige von Frankreich, von Engelland, von Navarra und der Insel Majolica, den König von Schottland, von Kastilien und dem Land Portugal nebst vielen andern Herren und Fürstlichkeiten des Abendlandes. Als nun der Kaiser von den Rüstungen hörte, die jener machte, um ihn zu bekriegen, tat er ein gleiches und bot auf den König von Ungarn, den Herrn von Böhmen und außerdem viele Markgrafen, Grafen und Edle von Deutschland. Die beiden Heere trafen in der Nähe einer Stadt aufeinander, die Wien heißt, und es entspann sich ein erbitterter Kampf, in dem viele mächtige Herren den Tod fanden und wobei auch Arrighetto verwundet wurde.
Als aber der Papst von den großen Heeresmächten vernahm, die beide Parteien aufgeboten hatten, schickte er zwei Kardinale, um sie zu versöhnen. Diesen gelang es nach vielen Bemühungen und unter Androhung des Kirchenbannes, endlich Frieden zu stiften, worauf Herr Arrighetto die entführte Prinzessin von Aragomen zur Frau bekam, während der Sohn des Königs von Aragon sich mit der Tochter des Kaisers, Arrighettos Schwester, vermählte. Und als sie einander verziehen und Friede und Verwandtschaft geschlossen hatten durch Vermittlung der beiden Kardinale, verabschiedeten sie sich mit großer Freude und Zufriedenheit, und jeder kehrte beruhigt in sein Land zurück.
Quelle: Märchen aus Italien