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Samstag, 9. Februar 2019

Schneeglöckchen ....

An einem Fenster eines Königspalastes saß einmal ein junger Königssohn, der schaute in den Garten hinaus, und der Mond brach eben durch die Wolken und erleuchtete mit mildem Glanze die königlichen Gärten, die der Schnee mit weißem glänzenden Kleide gedeckt hatte; denn es war im Februar. Der Königssohn aber war sehr betrübt, und seine Thränen fielen in den Garten herab, und schmolzen den Schnee. Dann nahm er eine Laute, stellte sich an's offene Fenster, und sang zu dem Klange der Saiten:

Wo find' ich das Glöckchen silberweiß,
Das dem silbernen Boden entsprieße?
Wo find' ich euch Thränen so freudig und heiß,
Daß das Silber zum Bächlein zerfließe?
Und find' ich euch nicht in schneller Frist,
Um das Schwesterlein dann es geschehen ist.

Diese Worte hatte aber der Sohn des königlichen Gärtners gehört, der eben auch zu seinem kleinen Fenster in den Mondschein hinaus sah. "Was soll denn das eigentlich heißen?" dachte er bei sich. "Warum ist denn unser guter Königssohn so sehr betrübt? Das muß ich wissen, vielleicht kann ich ihm helfen; in dem Schlosse sehe ich noch ein Lichtchen brennen."


Er schlich sich also zu dem Lichtchen hin, da wohnte der Pförtner, der die Gartenthüre bewachte. Er klopfte leise an dem Fensterchen, und der Pförtner rief: "Wer kommt denn da noch so spät an's Schloß?" "Macht mir ein wenig auf," sagte der Gärtnerssohn, "ich habe etwas mit euch zu reden." Da kam der Pförtner heraus mit einem großen Bund Schlüsseln, und schloß auf und schob die schweren Riegel zurück. Als sie aber in dem Pförtnersstübchen saßen am warmen Kamine, da sagte der Gärtnerssohn: "Sagt mir doch, was fehlt unserm jungen Königssohne? Ich habe eben im Mondschein gesehen, wie er geweint hat, und er hat etwas gesungen, was ich nicht habe verstehen können."

"Das will ich dir sagen, mein Sohn," sagte der Alte. Der junge Königssohn hat seine Schwester sehr lieb; diese ist aber seit einigen Tagen krank, und kein Mensch kann ihr helfen, so viel Aerzte man auch gerufen hat. In der verflossenen Nacht aber hat die Königstochter einen seltsamen Traum gehabt. Sie träumte nämlich, man hätte ihr ein silbernes Glöckchen gebracht, das war auf einem silbernen Boden gewachsen. Da hätte ihr Bruder vor Freude geweint, und seine Thränen hätten das Silber geschmolzen, und es sey in einem silbernen Bächlein auf den Boden gelaufen, davon sey sie gesund geworden.

Diesen Traum hat sie ihrem Bruder, dem Königssohn erzählt; aber er weiß das silberne Glöckchen nicht zu finden. Nach allen Ländern hat er Boten ausgesandt, aber er glaubt nicht, daß ihm einer das Verlangte bringen wird, und wenn es lange dauert, so stirbt die Königstochter gewiß, denn sie wird jeden Tag kränker. Darum ist der Königssohn so betrübt."


"Ich hab' es gefunden", rief der Gärtnerssohn auf einmal in freudiger Bewegung; denn er stand eben im Garten und sah, wie der Mond ein Schneeglöckchen beleuchtete, das unter dem Schnee hervor gewachsen war, und glänzender Reif hatte es überzogen, und es sah aus wie Silber, mit Diamanten besetzt. Da lief er hin, und holte eine Grabscheit, und grub es mit dem Schnee heraus, und setzte es in ein Körbchen. Er lief aber alsbald damit zum Schloß hinein.

Die Königstochter war aber sehr krank, und der Königssohn saß vor ihrem Bette, und ihr Vater und ihre Mutter erwarteten jeden Augenblick, daß sie sterben würde. Da trat der Gärtnerssohn mit dem Schneeglöckchen herein. Kaum aber hatte ihn die Königstochter erblickt, so rief sie: "das ist das silberne Glöckchen, das ich im Traume gesehen habe; jetzt bin ich gesund." "Gib es her,« sagte der Königssohn, daß ich es sehe." Da nahm er es in seine Hand, und wie er es so betrachtete, fielen seine Thränen herab auf den Schnee, daß er schmolz, und in einem glänzenden Bächlein auf den Boden tröpfelte.

Da stand aber der alte König und die Königin auf, und der König sagte zu dem Gärtnerssohne: "Ich habe meine Tochter demjenigen zur ehelichen Gemahlin versprochen, der ihr das Silberglöckchen bringen würde. Sie soll dein seyn."

J. J. Rudolphi (eigentlich Johann Jakob Rutz, 1800-1851)
Aus dem Märchen: Schneeglöckchen, Kapitel 4



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